Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
meinte noch: »Don’t go, it’s too dangerous!« Das war der falsche Satz, denn er klang wie eine Einladung.
Wir hatten uns für den Avalon cemetery entschieden, den größten im Lande und – was sonst? – den gefährlichsten. Kein Weißer lag hier. Die Stadtverwaltung musste sich alle Jahre wieder um weitere »extensions« kümmern. Damit auf dem neuen Land die neuen Leichen – die eineinhalb Millionen Quadratmeter waren schon überfüllt – zur letzten Ruhe kommen konnten. Aber eine letzte Ruhe (wir würden es bald wissen) gab es auch hier nicht. An einem der Eingänge, an denen wir vorbeikamen, stand ein Lieferwagen mit der Aufschrift »Fresh meat«, Frischfleisch. Ein Metzger-Mercedes, wir lachten. Für diesen Samstag das letzte Mal.
Die vielen verwahrlosten Gräber, rechts und links. Mit den Toten schienen sie so nachlässig umzugehen wie mit den Lebenden. Instinktiv fuhren wir aufs Gelände und parkten den Leihwagen nicht weit von der angegebenen Stelle. Busse trafen ein, Privatautos, die Leichenwagen, die Prozessionen. Für Afrikaner sind Beerdigungen normalerweise ein beliebtes Ereignis, meist heiter und beschwingt. In Südafrika, während der Apartheid, waren sie jedoch Ausdruck politischen Widerstands gewesen. Jetzt aber, in der Übergangszeit, boten sie Gelegenheit, sich untereinander zu bekämpfen. Angetrieben vom Hass auf den politischen Gegner und dem – noch immer – Hass auf den Weißen Mann, den Ausbund des Unterdrückers.
Über zwei Dutzend Gräber lagen offen. Eins neben dem anderen. Vor manchem der zwei Meter tiefen Löcher standen Baldachine mit Blumen und Teppichen. Die Angehörigen drängelten, Pastoren leierten den üblichen Sermon, viele der Anwesenden sangen mit erhobenen Fäusten. Ken machte diskret Fotos. Keiner lächelte, wir waren ganz offensichtlich nicht willkommen. Dennoch, ich kam mit mehreren Leuten ins Gespräch, auch mit dem Vater des Jungen, der bei dem Versuch, ein Auto zu stehlen, erschossen worden war. Von einem weißen Polizisten. Die Familie kochte, selbstverständlich verstand sie den Tod des Kindes als Exekution, vollzogen von einem Rassisten. Daneben stand das Grab eines Mannes, der bei einer Schlägerei ums Leben gekommen war. Dahinter wurde um einen getrauert, den sein Mörder mit einem Knobkierrie , dem etwa siebzig Zentimeter langen Schlagstock, schädeltot geprügelt hatte. Motiv unbekannt, vielleicht politisch, vielleicht aus reiner Habsucht. (Der Knüppel war in diesen Jahren als Totschläger Nummer eins im Land berüchtigt.)
Wir waren vielleicht zwanzig Minuten vor Ort, als sich die Ereignisse überschlugen. Aus dem Nichts rasten sieben Autos heran, bremsten knallhart und umkreisten dreimal, viermal die panisch in verschiedene Richtungen stiebenden Trauergäste. Und verschwanden wieder so abrupt, wie sie gekommen waren, noch immer die geballten Fäuste aus den Fenstern gestreckt. Unter den Schreienden erkannte ich plötzlich Kens Stimme, drehte mich in seine Richtung und sah circa fünfzehn Meter entfernt ein Handgemenge, Männer, die wohl nichts von dem heranbrausenden Schreckkommando mitbekommen hatten. Hörte wieder Ken schreien: »Help me, help me, I am just working here.« Als ich losrannte, sah ich, wie einer der Umstehenden auf den Fotografen einboxte, sah, wie Ken zu Boden ging, keine Schuhlänge von der frisch geschaufelten Grube entfernt. Ich brauchte drei Sekunden, dann riss ich den potentiellen Totschläger am rechten Arm zurück. Und erkannte – es wurde immer grotesker – das Gesicht von Philip, einem vielleicht 25-Jährigen, mit dem ich kurz zuvor gesprochen hatte. Er war der einzige gewesen, der uns wohlgesonnen schien, ja, mir zugeflüstert hatte: »Feel free, don’t worry.« Wie sich nun zeigte: eine Finte, um uns einzulullen.
Wir wären nicht davongekommen, wenn nicht drei junge Kerle mitgeholfen hätten, den scheinheiligen Hasser zu neutralisieren. Und wenn nicht andere ihre Hände entgegengestreckt hätten, um Ken aus dem Grab zu zerren. Reserviert für eine tödlich verunglückte Mutter.
Doch die Stimmung blieb extrem gespannt. Unverhohlen wurden wir nun aufgefordert, den Friedhof zu verlassen. Keiner könne hier für unsere Sicherheit garantieren. Meine Erklärungen, dass wir für eine deutsche Zeitschrift arbeiten würden, interessierten sie nicht, glaubten sie nicht. »Go, go, you belong to the oppressive regime, you are white, you go, you go!« Ein älterer Herr hatte Nachsicht mit uns und verwies auf die baldige
Weitere Kostenlose Bücher