Dies Herz, das dir gehoert
Behändeste.
Aber dann erinnerte sie sich daran, wie viel ihm an diesem Brief gelegen hatte, wie er ihn übermüdet und halb krank geschrieben hatte, damit eine Last von seinem Herzen sei, damit er ihr ganz gehöre.
Hanne Lark macht kehrt und geht zurück zum Postamt. Das Postamt ist überfüllt. Lange muss sie in einer Schlange von Menschen stehen, bis sie endlich zu dem Beamten kommt, der ihr den Einschreibebrief abnimmt.
Aber er nimmt ihn ihr nicht ab, sie wird wieder zurückgeschickt. Sie muss erst einen Quittungszettel für diesen Brief ausfüllen. Tausend Widrigkeiten: die Pulte sind überfüllt, dann ist kein Federhalter frei, und als sie einen hat, muss sie erst einen Quittungszettel suchen gehen.
Nun liest sie doch die Adresse, die sie nicht lesen sollte, sie schreibt sie sogar. »Frau Fabrikbesitzer Erna Wiebe, Berlin-Charlottenburg, Meisenstraße« schreibt sie. Sie redet sich ein, sie wird diese Adresse sofort wieder vergessen – wie viel hundert Adressen liest ihr Auge jeden Tag an den Ständen in der Halle, auf den Wagen vor der Halle, wie viel Kundschaft-Adressen notiert sie! In ihrem Gedächtnis bleibt nichts davon, auch diese Adresse wird ihm entschwinden.
Und doch ist etwas tief drinnen in ihr, das ihr sagt, sie wird diese Adresse nie vergessen. Etwas, das sie warnt, sie zu vergessen. Sie da, Hanne Lark, an ihrem Stehpult auf dem überfüllten Postamt, kneift die Lippen zusammen, schließt die Augen, schüttelt den Kopf – sie will diese Adresse nicht,sie hat es ihm doch versprochen! Aber als sie dann wieder in der Menschenschlange steht, geschieht es ihr, dass sie ganz selbstvergessen vor sich hin sagt: »Frau Fabrikbesitzer Erna Wiebe, Berlin-Charlottenburg ...«
Ihr Vordermann, ein jüngerer Kontorbote, dessen Männerstolz schon längst dadurch beunruhigt ist, dass dies fabelhaft hübsche Mädchen noch immer nicht von ihm angesprochen worden ist, fährt herum und sagt: »Wie bitte, Frollein? Elende Warterei, wat? Haben Se ooch schon so ’ne Eisbeene? Ick habe jar keen Jefühl mehr, bis ans Herz, det aber funktioniert noch, Jott sei’s jetrommelt und jepfiffen!«
Sie lächelt, aber sie lächelt so abwesend, dass es der junge Mann beim besten Willen nicht auf sich beziehen kann. Er sieht sich um, wen sie wohl so anlächelt, entdeckt aber nur die Uhr über den Schaltern, die glücklich fast zehn zeigt. So sagt er denn mit all der Fassung des Großstädters, der weiß, für einen Fisch, der nicht anbeißt, kann man in der nächsten halben Stunde ein halbes Dutzend im Netz haben, und doch mit einer gewissen Patzigkeit: »Na, denn nich!« Und dreht ihr wieder seinen Rücken zu.
Als Hanne Lark endlich beim Stand von Tante Gustchen eintrifft, zeigt die Hallenuhr viertel nach zehn, und ganz entsprechend sieht Tante Gustchen aus: dunkelrot, den schmalen Mund fest zusammengekniffen, die Kinnpartie zusammen mit der Brust scharf rausgedrückt, in den kleinen Augen aber hinter den scharfen Brillengläsern einen noch nie gesehenen Zornesblick, so bedient sie die Kundschaft, die heute außerordentlich artig sein muss, um hartem Tadel zu entgehen.
»Fassen Sie meine Bohnen nicht an, Sie, junge Frau, Sie«, hört Hanne Lark sie grade sagen. »Wenn’s Ihre Bohnen sind, können Sie se angrapschen. Vorläufig sind’s noch meine!«
»Entschuldige, Tante Gustchen«, fängt Hanne Lark ohne Furcht an, denn sie hat immer ein mutiges Herz gehabt, und heute ist es furchtloser denn je.
»Ich sprech nicht mit dir!«, zischt die Tante. Und: »Wenn Ihnen meine Äpfel nicht gefallen, machen Se sich vielleicht selber welche!«
»... aber der junge Mann ist krank geworden«, fährt Hanne Lark unbeirrt fort, während die Tante Geld wechselt. »Ich musste ihn erst wohin bringen, wo er sich ausruhen konnte.«
Sie ist nicht ganz ehrlich jetzt, die Hanne Lark, aber sie kann hier vor allen Leuten der Tante unmöglich auseinandersetzen, wie alles kam, warum sie so handelte, wie sie es getan hat. Das vielleicht später – vielleicht. Hanne Lark ist Menschenkennerin genug, um in ihrer Tante nicht viel Verständnis zu erwarten. Aber um sechs Uhr ist er ja aus dem Hause, und das Weitere wird sich dann wohl finden.
»Mach Tüten!«, erzürnt sich die Tante immer mehr. »Siehste nich, dass ich ohne Tüten dastehe?! Zu nichts biste nutze, nur zu ... Was soll’s denn sein? Zwei Dutzend Apfelsinen? Von welchen denn? Von den Spaniern oder von den Jaffa? – Wo die Jaffa sind? Direkt vor Ihrer Nase, gnädige Frau, wenn Sie
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