Dies Herz, das dir gehoert
Vielleicht wird die Mutter noch ein paar Dampfer abwarten, vielleicht wird sie heute noch nach Berlin zurückkehren, vielleicht wird sie die Überfahrt nach New York antreten – der Sohn Thomas rät nicht zu und rät nicht ab. Er lässt alles in der Schwebe, er legt sich nicht fest.
Aber er hat sich schon festgelegt, als er der Mutter nichts von dem nächtlichen Auftauchen des Bruders gesagt hat! Darüber sinnt er jetzt nach. Er glaubt seinen Bruder zu kennen, der, elend oder nicht, nach den erlauschten Worten zu stolz ist, je wieder das Elternhaus zu betreten, in dem dieser Bruder herrscht. Und er glaubt die Mutter zu kennen, die allen Schmerz noch stets in sich verschlossen hat, die nicht klagt, nicht horcht, nicht spioniert.
Es scheint keine Lücke da zu sein, nichts, das ihn in Gefahr bringt. Aber er grübelt immer wieder darüber, er kennt doch seine Mutter. Erfährt sie, was er gesagt und getan, so hilft alle Klugheit nichts, dann ist er verloren. Und wenn er für die Mutter verloren ist, so ist für ihn Werk und Geld verloren – sein Lebensinhalt!
Wie aufgewühlt die Mutter heute war! Fast möchte man neidisch werden, wie sehr sie diesen unreifen, nutzlosen Bengel liebt – während sie seiner Tüchtigkeit nur eine kühle Anerkennung zollt. Er hatte gedacht, die Mutter sei in der Zeit, da der Junge fort war, darüber weggekommen. Kaum je hatte sie von ihm gesprochen. Zeigte er ihr einmal einen Bericht jenes Büros, durch das er den Bruder überwachen ließ, so sah sie ihn kaum an, legte ihn anscheinend gleichgültig, ohne ein weiteres Wort, aus der Hand.
Freilich, dann, als der Scheck, den sie dem Jungen gesandt, bei der Bank vorkam, erwies es sich, dass sie ständig an ihn gedacht, in gewissen Abständen an ihn geschrieben,heimlich die so gleichgültig fortgelegten Berichte immer wieder studiert hatte. Es war also nichts geändert. Genau, wie es Thomas vorausgesagt hatte, war aus dem Bengel nichts Rechtes geworden. Wie er nicht anders erwartet hatte, nahm er doch wieder Geld von denen, denen er sein »Nie« nicht laut genug hatte ins Gesicht rufen können – aber die Mutter zog daraus keine Konsequenzen. Er blieb ihr lieber Sohn, an dem sie Wohlgefallen hatte. Nach dem Zustand zu urteilen, in dem sie sich heute befunden hatte, war er ihr nun, gescheitert und elend, noch hundertmal so lieb!
Unbegreifliche Inkonsequenz! Aber eine, mit der zu rechnen war, die gefährlich werden konnte! Er sitzt und grübelt. Ihm ist, als müsste da noch irgendein Haken sein, an dem er etwas anknüpfen könnte, die eigene Position noch sicherer machen. Soll er die Mutter nach den Staaten schicken? Es kostet ihn nur ein Wort, und ein viertel oder ein halbes Jahr wäre sie ihm hier aus dem Wege.
Aber das wäre nur ein Aufschub – ein halbes Jahr ist nichts. Besser eigentlich, die Mutter bleibt hier – ihm unter den Augen. Er kann dann immer sofort eingreifen, wenn etwas geschieht – er kennt keine Situation, der er sich nicht gewachsen fühlte.
So sitzt er und sinnt. Und wartet. Er hat das manchmal. Wenn jetzt alle diese neuen arbeiterfreundlichen Gesetze herauskommen, die nichts weiter sind als unnötige, alberne Belastung des Betriebes, so liest er sie durch, legt sie vor sich hin, wartet und sinnt. Sie scheinen klar und deutlich, dies und jenes hat er einzuführen, zu bauen, zu bewilligen.
Aber, wenn er dann eine Weile so gesessen hat, eigentlich einfach gewartet hat, so ist plötzlich der Haken da, an dem er sein Seil knüpfen kann. Alles kann man auslegen, umgehen,umdeuten. Er folgt immer dem Gesetz, dem er nie folgt. Denn es gibt nur ein Gesetz in ihm, das ihn zu ewiger Gefolgschaft verpflichtet, das ist sein ureigener, persönlicher Nutzen.
Er sinnt und wartet.
Und nun klopft es. Er sagt »Herein«, und seine Sekretärin, ein noch schönes, aber traurig-böse aussehendes Mädchen, kommt herein.
»Was wollen Sie denn?«, fragt er unfreundlich. »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich will nicht gestört werden!«
»Hier ist ein Einschreibebrief«, antwortet sie, auf die seine Unfreundlichkeit keinen Eindruck zu machen scheint. »An Ihre Frau Mutter. Ich glaube«, sagt sie langsam, »er ist vom jungen Herrn.«
Sie hält ihm den Brief hin.
Aber er nimmt den Brief noch nicht, sondern er sieht sie aufmerksam an. Sie kennen einander gut, diese beiden. Sie weiß so viel von ihm, was keiner sonst weiß – sie war auch einmal mehr für ihn, als eine Sekretärin ist. Aber das ist lange her. Sie denken kaum noch daran.
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