Diese alte Sehnsucht Roman
Kongress, und so parkte er abseits der anderen. Joys Familie würde vermutlich auch das arrogant und snobistisch finden, doch während seines Jahres in L.A. hatte er zwei kleine, aber teure Unfälle gehabt – einen auf der Schnellstraße, an dem er eigentlich nicht schuld gewesen war, und einen auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums, an dem er hundertprozentig schuld gewesen war –, und seine Versicherungsprämien waren entsprechend gestiegen. (Interessant, dachte er, dass seine Mutter unentwegt auf ihn einredete, während sein Vater sich auf eine Kommunikation mithilfe verbeulter Stoßstangen und abgebrochener Außenspiegel beschränkte.)
Der Abend war kühl, mit einer angenehmen Brise vom Meer, und so beschloss er, noch ein paar Minuten im Wagen sitzen zu bleiben, um sich für das Ereignis zu wappnen, das zu einer Tortur zu werden versprach. Doch Joy musste wohl nach ihm Ausschau gehalten haben, denn kaum hatte er den Motor abgestellt, da sah er sie im Rückspiegel die Stufen der Veranda herunterkommen. Auf dem Armaturenbrett lag das Literaturmagazin, in dem »Der Sommer mit den Brownings« abgedruckt war. Er hatte ein Exemplar mitgenommen, um es Joy zu geben, aber jetzt merkte er, dass der Zeitpunkt nicht gut war, und ließ es liegen, wo es war. Alles ist eitel , sagte seine Mutter und zitierte wen? Shakespeare? Thackeray? Das Alte Testament? Google es doch , schlug sie vor. Herrgott, dachte Griffin. Im vergangenen Jahr war Joy, obwohl sie nur spärliche Beweise gehabt hatte, überzeugt gewesen, dass sein Vater ihn heimsuchte. Wie würde sie die Tatsache interpretieren, dass er in Debatten mit seiner Mutter den Kürzeren zog? Nicht dass er vorgehabt hätte, es ihr zu erzählen.
»Joy«, sagte er, stieg aus und schenkte ihr das beste Lächeln, das er zustande brachte, »du siehst großartig aus.«
Und das stimmte. Sie hatte etwas abgenommen, was sich am vorteilhaftesten in ihrem Gesicht bemerkbar machte. Ihre Augen aber verrieten, wie anstrengend das letzte Jahr für sie gewesen war, und eine Welle von Schuldgefühlen ergoss sich über ihn, deren Unterströmung seine Knie weich werden ließ. Er merkte, dass auch sie die äußerlichen Veränderungen an ihm registrierte, und die waren, wie er wusste, noch ausgeprägter.
Seit er vom Gasthof aufgebrochen war, hatte er sich gefragt, ob sie sich umarmen würden. Er wollte nichts voraussetzen und ermahnte sich, nicht die Initiative zu ergreifen, sondern nur zu reagieren, doch nun war der Augenblick gekommen, und die Frau, mit der er seit fünfunddreißig Jahren verheiratet war, lag so schnell in seinen Armen, dass er gar nicht reagieren konnte . Und ebenso schnell trat sie wieder zurück, bevor er noch zu einem Urteil darüber kommen konnte, was für eine Art von Umarmung das war. So, sagte er sich, würde es vermutlich in den nächsten vierundzwanzig Stunden bleiben: Aus jedem Augenblick würde sich, noch bevor er wirklich verarbeitet war, mit schrecklicher Effizienz der nächste entwickeln. Herrje, wie sollte er das bloß durchstehen?
»Du siehst müde aus«, sagte Joy. »War es ein unruhiger Flug?«
»Nicht sonderlich«, sagte er. »Das mit dem Einschlafen ist schlimmer geworden.« Das hatte er ihr eigentlich gar nicht sagen wollen, aber drei Jahrzehnte intimer Vertrautheit schufen Gewohnheiten, mit denen schwer zu brechen war. Wollte er Joy vielleicht Sympathie entlocken?
»Das tut mir leid.«
»In den letzten Wochen war es ein bisschen besser«, log er. In Wirklichkeit war es schlimmer gewesen, doch nachdem er die entlockte Sympathie bekommen hatte, fühlte er sich ihrer unwürdig.
»Bist du mal bei einem Arzt gewesen?«
»Wenn ich zurück in L.A. bin, habe ich einen Termin«, sagte er – auch dies eine Lüge. Wie viele würde er noch erzählen müssen, um die erste Wahrheit auszugleichen?
»Es war ein hartes Jahr«, sagte sie und fügte rasch hinzu: »Wegen deiner Mutter, meine ich«, damit er nicht auf den Gedanken kam, sie könnte von der Trennung sprechen.
Jener Herzinfarkt im August hatte ernsten Schaden angerichtet, und die Operation, die nötig war, um ihn zu beheben, barg ein gewisses Risiko, hatte der Herzspezialist erklärt, besonders für eine Frau in ihrem Alter. Ohne eine Operation blieben ihr ein, zwei Jahre, vielleicht aber auch nur sechs Monate. Der Nutzen der Operation war erheblich, sofern sie nicht auf dem Operationstisch einen Schlaganfall erlitt: Sie würde noch Jahre leben, möglicherweise ein Jahrzehnt. »Wenn dieser Idiot
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