Diese eine Nacht mit dir
sowieso zwecklos. „Und dann?“
„Dann …“ Rico trat einen Schritt auf sie zu, aber Gypsy wich ihm hastig aus. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass sie in seiner Nähe immer Schmetterlinge im Bauch hatte. „Morgen reisen wir zur Taufe meines Neffen nach Buenos Aires. Ich bin sein Pate. Außerdem habe ich dort noch ein paar Geschäfte zu erledigen.“
„Du hast einen Neffen?“, fragte Gypsy. Gegen ihren Willen erwachte die Neugier in ihr.
„Er ist der Sohn meines jüngeren Halbbruders. Lola hat einen Cousin und eine Cousine.“ Es klang fast anklagend. „Die vierjährige Beatriz und den sechs Monate alten Luis. Mein Bruder Rafael und seine Frau Isobel freuen sich, dich und Lola kennenzulernen.“
Gypsy fühlte sich überrumpelt. Auf einmal gab es eine Familie, und Rico war Taufpate. Lola hatte Cousin und Cousine. Die Vorstellung weckte ein eigenartiges Gefühl in ihr. Familie . Es hätte nicht viel gefehlt, und Lola hätte diese Familie nie kennengelernt. Gypsy hatte sich immer nach einer richtigen Familie, nach einem Bruder oder einer Schwester gesehnt. Ihre Eltern waren beide Einzelkinder gewesen, so wie sie auch.
Benommen ließ Gypsy sich von Rico in den Flur führen, zog ihren Mantel an und ging zu dem auf sie wartenden Wagen. Wie in Trance fuhr sie zu ihrem Apartment und packte ihre Habseligkeiten zusammen. Schließlich blickte sie sich noch einmal mit einem tiefen Seufzer um. Jetzt, wo sie eine Woche bei Rico verbracht hatte, kam ihr ihre Unterkunft noch hässlicher vor. Selbst sie konnte sich jetzt nicht mehr vorstellen, Lola hierher zurückzubringen.
Sie überzeugte sich, dass sie ihren wichtigsten Besitz eingepackt hatte: einen alten Karton voll Erinnerungen an ihre Mutter. Es waren Fotos und die Briefe an ihren Vater, die sie nach seinem Tod in seinem Arbeitszimmer gefunden hatte. Alles andere bedeutete ihr nichts.
Erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und gab einen Moment lang ihren Gefühlen nach. Sie weinte nicht, aber sie war unsäglich traurig. Würde sie in Zukunft miterleben müssen, dass Rico ihre Tochter so behandelte, wie ihr Vater sie behandelt hatte? Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte?
Sie musste aber auch zugeben, dass Lolas Existenz ein ziemlicher Schock für Rico gewesen sein musste. Und trotzdem hatte er sie vom ersten Moment an als seine Tochter angenommen, hatte sie nicht zurückgestoßen oder ignoriert, bis der Test ihm schwarz auf weiß seine Vaterschaft bestätigte. Auch wenn er selbstherrlich über ihr Leben und das ihrer Tochter bestimmte, hatte er nicht ganz so reagiert, wie sie es befürchtet hatte. Das musste sie sich jetzt schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage eingestehen, wenn auch zähneknirschend.
Gypsy sah ihrem Vater nicht sehr ähnlich. Deshalb hatte er auf einem Vaterschaftsnachweis bestanden, als er sie bei sich aufnehmen musste. Und das, obwohl er bereits von ihrer Existenz gewusst hatte. Als sich dann herausstellte, dass sie wirklich seine Tochter war, hatte er nur den Kopf geschüttelt und gemeint: „Es wäre einfacher, mich um dich zu kümmern, wenn du wenigstens den Bastions nachschlagen würdest. Aber du bist wie deine arme, dumme, verrückte irische Mutter. Und mit diesen Haaren siehst du wirklich den Zigeunern ähnlich, nach denen sie dich benannt hat.“
Gypsy verdrängte die Erinnerungen und kehrte in die Gegenwart zurück. Wenigstens ähnelte Lola ihrem Vater. Wahrscheinlich fiel ihm deshalb der Umgang mit ihr leichter.
Mit einem letzten flüchtigen Blick auf ihre alte Wohnung stand sie auf und griff nach ihren Taschen. Sie sah noch einmal nach, ob sie den Karton auch ja nicht vergessen hatte, dann verließ sie endgültig das Apartment. Auf der Heimfahrt dachte sie an die Zukunft, wie Rico sie ihr ausgemalt hatte. Und daran, dass sie ihm bald wieder gegenüberstehen würde. Und sie musste zugeben, dass die Gefühle, die dabei in ihr erwachten, leider nicht eindeutig ablehnend waren.
Gypsy saß in einem luxuriös ausgestatteten Privatjet und ließ die letzten Stunden noch einmal Revue passieren.
„Draußen warten die Paparazzi“, hatte Rico gemeint, während sie packte. „Sie werden uns fotografieren. Es würde mich freuen, wenn du es über dich bringen könntest, eines der Kleider zu tragen, die ich für dich gekauft habe. In Buenos Aires müssen wir uns bei einigen offiziellen Veranstaltungen zeigen. Und dann ist da ja auch noch die Taufe …“
Mit anderen Worten, ich soll meine schäbigen Klamotten
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