Diese eine Nacht mit dir
beiden stand ein hochgewachsener Mann, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Rico besaß. Das musste Rafael sein, Ricos Halbbruder. Ein kleines dunkelhaariges Mädchen in ausgewaschenen Shorts und T-Shirt wuselte barfüßig zwischen den Füßen der Erwachsenen herum. Irgendwie wirkte der Anblick beruhigend auf Gypsy.
Der Wagen hielt an, und sie stiegen aus. Vor Aufregung bekam Gypsy Lolas Sicherheitsgurt nicht auf. Endlich konnte sie das Kind aus seinem Sitz heben. Die fremden Gesichter machten der Kleinen etwas Angst. Den Daumen im Mund, schmiegte sie sich eng an ihre Mutter. Als Rico neben sie trat und die Hand auf ihren Rücken legte, wurde auch Gypsy ein wenig ruhiger. Gemeinsam gingen sie auf die Gruppe zu. Und alle Angst verflog, als Rafaels Frau ihnen mit einem strahlenden Lächeln entgegenkam und zuerst Gypsy und dann Rico herzlich umarmte.
„Wie schön, dich kennenzulernen, Gypsy. Und das ist also Lola – sie ist ja ein richtiger Schatz!“ Gypsy war überrascht. Isobel sprach ein perfektes Englisch. Und nicht nur das, sie sah auch eher wie eine Engländerin aus.
Sie begrüßte Rafael mit einem Lächeln. Aus der Nähe gesehen waren sich die Brüder sehr ähnlich, aber Ricos Augen waren von einem kalten Stahlgrau, während die von Rafael dunkelbraun leuchteten. Und Rafael besaß auch nicht diese gefährliche Aura, die Rico wie ein düsterer Mantel umgab.
Die Begrüßung ging rasch und in einem fröhlichen Durcheinander über die Bühne. Beatriz, die vierjährige Tochter der beiden, schien sehr gespannt zu sein, ihre neue Cousine kennenzulernen.
Rico hob Beatriz hoch und wirbelte sie durch die Luft, bis sie vor Vergnügen quietschte. „Du kannst nachher Lola Guten Tag sagen, wenn sie sich ein bisschen eingewöhnt hat, einverstanden?“
„Okay, Onkel Rico“, strahlte Beatriz.
Alle drängten ins Haus. Eine schlicht gekleidete Haushälterin tauchte auf und wischte sich im Gehen noch rasch die Hände an der Schürze ab. Wieder wurde man einander vorgestellt. Rafael und Isobel scheinen wirklich ein glückliches Paar zu sein, dachte Gypsy bei sich. Die beiden und auch die Atmosphäre des ganzen Hauses, durch das Isobel sie lachend und plaudernd führte, strahlten so viel Harmonie aus.
Ein paar Minuten später standen sie an der Tür zu einem Schlafzimmer. „Es tut mir leid“, entschuldigte sich Isobel bei Gypsy und verzog das Gesicht. „Du musst völlig erschöpft sein. Ich weiß, wie anstrengend der Flug von England hierher sein kann. Ich ging dort zur Schule, ganz in der Nähe vom Wohnsitz der Familie meines Vaters. Ach, ich rede und rede. Dabei möchtest du dich sicher frisch machen und etwas ausruhen.“
Lachend wiegte Isobel ihr fröhlich lächelndes Baby, und Gypsy ahnte, dass sie Freundinnen werden könnten. Bisher hatte sie noch nie eine Freundin gehabt. Mit einem Mal spürte sie ihre Erschöpfung. „Um ehrlich zu sein“, meinte sie mit einem scheuen Lächeln, „ich bin ein wenig durcheinander. Alles ging so schnell. Aber ich bin sehr froh, dich jetzt kennenzulernen. Und eure Kinder sind wunderbar.“
Isobel zog eine Grimasse. „Na ja, die meiste Zeit“, bemerkte sie trocken. „Aber das kennst du ja sicher.“
Gypsy nickte lachend. Es tat ihr gut, dass Isobel und Rafael keine Fragen stellten, obwohl sie doch sicher eine ganze Menge Fragen hatten. In dem Augenblick tauchte Rico auf. Isobel deutete durch die offene Tür auf das luxuriös eingerichtete Zimmer. „Ich hoffe, das hier ist das Richtige für euch und Lola. Für das Baby habe ich ein Kinderbettchen aufstellen lassen. So ist sie in eurer Nähe. Es sind auch Babyfone da. Sagt es einfach, wenn ihr sonst noch etwas braucht. Eure Koffer werden gleich gebracht. Ruht euch ein wenig aus. Wir essen so um acht, wenn die Kinder im Bett sind.“
„Danke, Isobel“, erwiderte Rico. „Wir sehen uns dann später.“
Isobel winkte ihnen kurz zu und ging den Korridor hinunter. Immer noch standen sie in der Tür. Schließlich wurde Gypsy von Rico ins Zimmer geschoben. Sie schaute sich um, und wieder stieg die altbekannte Panik in ihr auf. Es gab nur ein Schlafzimmer, ein Bad, ein Ankleidezimmer und eine kleine Kammer, in der ein Kinderbett und ein Wickeltisch standen. Unwillkürlich umklammerte sie Lola, als wäre sie ihr Rettungsseil.
Hastig drehte sie sich zu Rico um. „Dieser Raum ist sicher für Lola und mich. Wo ist dein Zimmer?“
Rico verschränkte die Arme. Er hatte sich im Flugzeug umgezogen und trug jetzt verwaschene Jeans
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