Diese eine Nacht mit dir
bevor ihr eine geistreiche Erwiderung einfallen konnte, öffnete sich die Tür und das Kindermädchen von Rafael und Isobel trat ins Speisezimmer.
Sie sprach leise mit der Hausherrin, die sich rasch erhob. „Es geht um Luis. Er will keine Ruhe geben. Entschuldigt ihr mich bitte?“
Gypsy wollte nur noch fort. Sie ergriff die Gelegenheit, erhob sich ebenfalls und sagte: „Ich sollte wohl auch einmal nach Lola sehen.“ Zu ihrem Entsetzen wehrte Isobel ab. „Lass nur. Trink du deinen Kaffee, ich erledige das für dich.“
Gypsy setzte sich also wieder brav hin und fühlte sich ziemlich elend. Sie vermied es, Rico anzusehen. Zum Glück schien Rafael sehr gesprächig zu sein. In sich gekehrt ließ Gypsy den Gesprächsstrom an sich vorbeiplätschern. Warum hatte Ricos Bemerkung sie nur so verletzt? Er hatte doch nur gesagt, dass er sie nicht heiraten wollte. Und sie wollte ihn auch nicht heiraten! Sollte doch eine große, schlanke Blonde ihn kriegen, Typ: „reiche Erbin“. So eine suchte er doch. Oder diese aufreizende Rothaarige.
Nachdem sie ausreichend lang dagesessen hatte, stand sie auf und meinte entschuldigend zu Rico: „Der Jetlag macht mir zu schaffen. Wenn du nichts dagegen hast, gehe ich ins Bett.“
Insgeheim schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich folgte er ihr nicht. Im Gehen hörte sie, wie er die Unterhaltung wieder aufnahm. Sie seufzte erleichtert und rannte fast die Treppe hinauf. Oben stieß sie beinahe mit Isobel zusammen, die im Begriff war, wieder hinunterzugehen.
Sie hielt Gypsy am Arm fest und fragte leise: „Alles in Ordnung mit dir?“
Gypsy nickte stumm. Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen.
Isobel biss sich auf die Lippen. „Ich fürchte, ich habe da etwas Falsches gesagt. Es tut mir so leid … Ich sah nur, wie er sich dir gegenüber verhält, und da habe ich halt angenommen …“ Was meinte sie mit: Ich sah nur, wie er sich dir gegenüber verhält ? Aber Isobel machte so ein bekümmertes Gesicht, dass Gypsy sich nicht zu fragen traute. „Aber nein. Du bist an gar nichts schuld. Glaub mir. Es ist nur … Zwischen Rico und mir ist es nicht so, wie es scheint … ich meine … wir sind nicht wirklich zusammen .“
„Und ich habe euch auch noch in ein gemeinsames Zimmer gesteckt!“, stöhnte Isobel. „Es tut mir leid. Keine Sorge, ich werde Rico …“
„Nur nicht!“, unterbrach Gypsy. Ricos Reaktion konnte sie sich nur allzu gut vorstellen. Sie zwang sich zur Ruhe. „Es ist schon okay. Bestimmt. Mach dir keine Sorgen wegen unserer Beziehung.“
Isobel hakte sich bei Gypsy unter und schlenderte mit ihr zurück in Richtung Schlafzimmer. „Falls es dich tröstet – ich glaube, ich weiß, was du durchmachst“, gestand sie.
Verwundert runzelte Gypsy die Stirn. „Aber du und Rafael, ihr scheint so …“ Sie dachte an die Szene im Salon.
Isobel lächelte. „Oh, jetzt sind wir glücklich. Aber glaube mir, das war nicht immer so.“ Wehmütig schüttelte sie den Kopf. „Aber wenn man bedenkt, was für eine Kindheit die beiden hatten, und welchen Schaden ihr Vater –“ Sie hielt inne und räusperte sich. „Schuld ist Rafaels Vater, Ricos Stiefvater. Und das, was er ihnen angetan hat. Wenn man das weiß, dann weiß man auch, woher die Arroganz und der Ehrgeiz der beiden kommen. Und Rico hatte es noch viel schwerer als Rafael, weil er der Sohn von einem anderen ist. Mit sechzehn ging er auf und davon, um seinen leiblichen Vater in Griechenland zu suchen. Rafael hörte lange nichts von ihm.“
Was Isobel da erzählte, wühlte Gypsy innerlich auf. „Er verließ mit sechzehn sein Zuhause?“
Isobel nickte. „Nachdem er so verprügelt worden war, dass er fast im Krankenhaus gelandet wäre. Hätte er sich damals nicht gegen seinen Vater gewehrt – wer weiß? So wie es aussieht, rettete er damit Rafael vor jahrelangen Misshandlungen …“ Vor der Schlafzimmertür drehte Isobel sich noch einmal zu Gypsy um. „Wenn ich dir die Situation irgendwie erleichtern kann, dann sag es mir.“
Gypsy zwang sich zu einem Lächeln. „Das werde ich. Danke.“
Ganz unvermittelt schloss Isobel sie in die Arme, bevor sie ging.
Dann schloss Gypsy die Tür hinter sich und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die spontane Herzlichkeit Isobels raubte ihr den letzten Funken Selbstbeherrschung. Lange Zeit stand sie an die Tür gelehnt und weinte stumm.
Irgendwann wischte sie sich die Tränen fort. Sie versuchte sich einzureden, dass sie nicht um einen misshandelten
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