Diese eine Nacht mit dir
Sechzehnjährigen weinte. Einen Sechzehnjährigen, den man so grausam geschlagen hatte, dass er keinen anderen Weg mehr wusste, als sein Elternhaus zu verlassen. Seit längerer Zeit schon hegte sie den Verdacht, dass Rico eine wesentlich vielschichtigere Persönlichkeit war als ihr Vater. Sie hätte gerne mehr über ihn erfahren. Immer deutlicher erkannte sie, dass Rico, auch was seine Tochter betraf, ganz anders handelte als ihr Vater.
Er rächte sich an ihr, so wie ihr Vater sich an ihrer Mutter gerächt hatte. Aber er tat es nicht, weil sie von ihm die Anerkennung seiner Tochter forderte. Nein, ganz im Gegenteil. Er tat es, weil sie ihm Lolas Existenz verheimlicht hatte.
Eigentlich hätten seine Worte heute Abend sie doch beruhigen müssen. Er hatte nur verkündet, dass er sie trotz der gemeinsamen Tochter nicht heiraten würde. Aber Gypsy hatte das Gefühl gehabt, als würde ihr ein Messer ins Herz gestoßen.
Ihr fiel ein, dass Rico jederzeit durch die Tür kommen konnte. Hastig zog sie sich das Nachthemd an und schlüpfte unter die Decke. Sie rutschte ganz auf eine Seite und legte als Warnung für Rico rasch noch ein Kissen in die Mitte des Bettes. Aber nach seinem Kommentar im Salon war ihr eigentlich klar, dass er sie nicht verführen würde. Genauso wenig, wie er vorhatte, auf Lola zu verzichten.
Rico betrat das Schlafzimmer. Ein kleines Nachtlicht an der Seite des Bettes verbreitete einen schwachen Lichtschein. In ihm konnte er die Konturen von Gypsys Körper erkennen, die sich unter der Bettdecke abzeichneten. Leise trat er ans Bett. Gypsy schlief. Auf ihren Wangen konnte er Spuren von Tränen sehen. Er fluchte leise. Ein Kloß saß in seinem Hals. Es war ein sehr unwillkommenes Gefühl, ganz besonders im Zusammenhang mit dieser Frau.
Gerade hatte er noch Isobels vorwurfsvolle Blicke ertragen müssen. Gar nicht zu reden von Rafael, der ihm deutlich zeigte, was er von seinem Benehmen hielt. Er konnte den beiden nicht sagen, dass er die Worte bereute, kaum dass sie ausgesprochen waren. In dem Moment, als Gypsy blass wurde und er in ihren Augen las, wie verletzt sie war, hätte er am liebsten alles ungeschehen gemacht. Es war der billige Versuch gewesen, sie zu kränken. Und das war ihm geglückt.
Das Bedürfnis, Gypsy zu kränken, verwirrte ihn. Wollte er sie etwa zwingen, ihn zurückzustoßen? Dazu brauchte es nicht mehr viel, das wusste er. Es hatte ihn erstaunt, dass sie ihn nicht schon nach der Verführung im Arbeitszimmer zurückgewiesen hatte. Er wollte ihr zeigen, welche Macht er über sie besaß, wollte ihr eine Lektion erteilen. Aber irgendwie war sein Plan außer Kontrolle geraten. Fast hätte er wie ein unerfahrener Teenager die Beherrschung verloren.
Gypsy hasste ihn. Seltsamerweise schenkte ihm dieser Gedanke nicht mehr die gleiche Befriedigung wie noch vor ein paar Tagen. Er presste die Lippen zusammen. In seinem Verhalten oder in dem, was er verkörperte, musste etwas sein, das sie verabscheute. Immer deutlicher erkannte er, dass sie aus einem bestimmten Grund keinen Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr.
Ihm fielen auch die immer wiederkehrenden Bemerkungen auf. Männer wie du oder Ich weiß, wie du handelst. Sie gingen ihm langsam auf die Nerven. Aber obwohl Gypsy vor Kurzem Gelegenheit gehabt hätte, ihm wegen Lolas Quengeln ein schlechtes Gewissen einzureden, hatte sie es nicht getan. Im Gegenteil, sie hatte ihn beruhigt und ihm versichert, dass er nichts falsch gemacht hatte.
Und zum Dank dafür sagte er ihr dann so eine Gemeinheit.
Er war eben an Menschen gewöhnt, die nur darauf warteten, dass man Schwächen zeigte, um sie dann auszunutzen. Doch Gypsy schien nicht zu diesen Menschen zu gehören. Sie war ihm ein Rätsel. Sie traute ihm nicht, sie wollte sein Geld nicht, und sie bekämpfte ihre Gefühle für ihn, als hinge ihr Leben davon ab. Er wollte endlich wissen, warum. Trotz des größten Verlangens, das er je für eine Frau empfunden hatte, wollte er vorsichtig vorgehen. Mal sehen, was er noch alles an ihr entdeckte, wenn er sie näher kennenlernte.
„Ich muss mich bei dir entschuldigen.“
Gypsy umklammerte ihre Kaffeetasse. Sie war mit Rico allein in dem hellen, luftigen Frühstückszimmer. Erleichtert hatte sie beim Aufwachen festgestellt, dass Ricos Bettseite leer war. Lola hatte er bereits mitgenommen. Sie frühstückte zusammen mit Beatriz, Isobel und Luis. Später hatte Isobel darauf bestanden, die Kleine mit zu Beatriz zu
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