Diese eine Woche im November (German Edition)
gerade noch das Wappen der Trucidi zu sehen war, ist der Bildschirm jetzt leer. Sandro macht weiter, bis nur der Bildschirmschoner übrig bleibt. Ein gelber Fisch schwimmt von einem Rand zum anderen. Sandro fährt den Computer herunter und sieht sich um. Er schließt die Bürotür hinter sich, steigt in den Fahrstuhl und verlässt die Questura durch den Hintereingang. Es sind nur ein paar Schritte zum Kanal. Der Kollege erwartet ihn im Motorboot. Sandros Arbeitstag ist noch nicht beendet. Er springt an Bord.
» Wohin? « , fragt der Kollege.
» Hotel Don Giovanni . «
Während das Boot vom Ufer ablegt, schlüpft Sandro aus dem Overall. Er nimmt den Kamm aus seiner Tasche und frisiert das Haar nach hinten. Das Boot verschwindet im Nebel.
13
E s ist Punkt halb elf, als Julia und Tonio das Hotel erreichen.
» Du könntest deinen Vater anrufen und sagen, du verspätest dich ein wenig. «
» Keine gute Idee « , antwortet Julia, macht aber keine Anstalten, hineinzugehen.
» Versuch es. Wenn er Nein sagt, sagt er Nein. «
Julia schaut hinauf. Hinter der Balkontür brennt Licht. » Vielleicht ist er beim Lesen eingeschlafen. «
» Ruf ihn an. « Tonio lächelt ermunternd. Er will sie noch nicht gehen lassen.
Herbert Reichelt ist nicht beim Lesen eingeschlafen. Er starrt einen Mann an, der wie ein Bullterrier aussieht. Dessen Wangen zittern, wenn er spricht, sein Doppelkinn quillt übers T-Shirt. Seine Hand hält eine Waffe. Der Bullterrier sitzt auf Herberts Bett. Herbert kann nicht sprechen. Ein Streifen graues Klebeband hindert ihn daran. Das gleiche Klebeband, mit dem er an den Stuhl gefesselt ist. Er hat nur einen Schuh an. Als das Gespräch mit Gianfranco abbrach, wollte Herbert die Carabinieri alarmieren. Er suchte die Notrufnummer auf der Telefonliste des Hotels. Es klopfte.
» Zimmerservice « , sagte jemand von draußen.
» Das trifft sich gut. « Herbert lief zur Tür. » Können Sie mir sagen, welche Nummer der italienische Notruf hat …? «
Draußen stand ein Mann. Er sah nicht aus wie jemand vom Zimmerservice. Lederjacke, Jeans und ausgelatschte Stiefel. Er richtete seine Waffe auf Herberts Brust. » Reingehen. Maul halten « , sagte er auf Italienisch.
Weder liegt es in Herberts Naturell, den Helden zu spielen, noch ließ die Situation es zu. Niemand, den er um Hilfe hätte bitten können, befand sich auf dem Korridor. Herbert reagierte besonnen und ließ den Bullterrier herein. Der schloss die Tür von innen ab.
» Hinsetzen. « Er winkte mit der Knarre auf den Stuhl.
Herbert ist ohne Dienstwaffe nach Venedig gekommen. Vielleicht war das ein Fehler. Wenig später saß er professionell in Klebeband verpackt auf dem Stuhl und konnte sich kaum rühren. Bevor der Terrier ihm den Mund zuklebte, sagte Herbert: » Meine Tochter kann jeden Moment kommen. Tun Sie ihr bitte nichts. «
Der Terrier verstand kein Wort und pappte den Streifen auf Herberts Mund.
Seit zehn Minuten sitzen sie einander gegenüber. Auf dem Schreibtisch klingelt Herberts Handy. Plötzlich ist es mit seiner Beherrschung vorbei. Er wirft sich hin und her, der Stuhl kracht. Der Bullterrier betrachtet das leuchtende Telefon. » Halt still « , sagt er zu Herbert.
Nach dem fünften Klingeln schaltet sich die Mailbox ein. Der Terrier kehrt auf seinen Platz zurück.
» Hallo, Papa? « , sagt Julia auf der Straße. » Ich bin vor dem Hotel, pünktlich auf die Minute. « Sie lacht. » Wieso gehst du nicht ran? « Ein Blick zu ihrem Begleiter. » Ich führe gerade ein interessantes Gespräch mit Tonio, da wollte ich fragen … « Sie schüttelt den Kopf. » Rufst du mich zurück? « Nachdenklich legt sie auf.
» Und? «
» Er muss im Bad sein. Ich gehe besser hoch. «
Tonio tritt ihr in den Weg. » Wenn du erst oben bist, lässt er dich nicht mehr fort. Er ruft bestimmt gleich zurück. « Er zeigt zum Café gegenüber. » So lange könnten wir – «
Julia schaut zur beleuchteten Balkontür hoch. » Vielleicht ist er eingeschlafen. Er hat sich vorhin nicht wohlgefühlt. «
» Wir sollten ihn nicht stören. « Sanft berührt er ihren Ellbogen.
Lächelnd willigt Julia ein. Die beiden schlendern über den Platz. Das Café liegt am Wasser. Tonio sieht ein Boot näher kommen, es gleitet auf das Don Giovanni zu. Ein Mann steuert es, ein zweiter steht im Heck. Normalerweise würde Tonio sich an den Schwarzhaarigen erinnern. Beim letzten Mal hielt er ein Beil in seiner Hand. Doch im Augenblick ist Tonio mit Julia unterwegs. Sie will
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