Diese eine Woche im November (German Edition)
einziger Zweck es ist, die Touristen anzulocken.
Jemand guckt. Jemand sieht, wie Julia und Tonio nebeneinander über die Terrasse des Lokals laufen. Jemand duckt sich in den Schatten des Kriegerdenkmals, irgendein Seeheld, der Venedig vor Jahrhunderten Ruhm und Sieg einbrachte.
Pippa ist nicht von Haus aus misstrauisch, so wie Tonio. Aber sie ist auch nicht blöd. Als er die gemeinsame Diebestour für den Abend absagte, schwante ihr etwas. Ihr Riecher hat sie nicht betrogen. Statt zu arbeiten, verbringt ihr Freund, ihr Kompagnon, die Zeit mit einem fremden Mädchen. Mit dieser Ausländerin. Eigentlich hätte Pippa schon ein Licht aufgehen müssen, als er so viel Aufhebens um ihre Brieftasche machte. Gerade erreichen die beiden den Tresen und schwingen sich auf zwei Barhocker. Tonio lacht übertrieben. Grinsendes Schaukelpferd, denkt Pippa. Insgeheim kann sie ihn verstehen. Das blonde Haar der Deutschen sieht kostbar aus, pures Gold, ganz anders als ihre eigene Mähne. Sie wirft den dunklen Pony aus der Stirn. Worüber reden die beiden eigentlich? Pippa zieht ihren Schal über den Kopf.
» Chic ist das hier. « Julia lässt den Blick herumwandern.
Der Laden könnte kaum unpersönlicher sein. Waschbeton am Boden, Aluminiumstühle, Neonlicht. Doch Tonio hat die Deutsche richtig eingeschätzt. So was kommt bei ihr an. Er bestellt Cola.
» Dein Papa ist also Industrieller? « , fragt sie.
Plötzlich hat er Lust, ihr die Flausen von der Sonnenseite des Lebens auszutreiben. Mag ihre Kindheit auch ein Picknick gewesen sein, seine war das Gegenteil.
» Wenn mein Vater überhaupt arbeitet, steht er am Fließband. Meistens hängt er nur rum und lässt sich volllaufen. Zumindest war das so, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. «
Das fröhliche Mädchengesicht wird ernst. » Und deine Mutter? Wann ist sie gestorben? «
» Vor langer Zeit. Ich war vier, sagt Papa. «
Die Gläser werden vor ihnen abgestellt.
» Du lebst bei deinem Vater? «
» Nein. «
Bilder tauchen vor ihm auf, da kann man nichts machen. Bilder vom Vater, wie er geflennt hat, als er ins Gefängnis musste. Nicht weil er seinen Sohn im Stich ließ, er heulte aus Selbstmitleid. Weil das Leben ihm immer die Arschkarte zuteilte, weil er nie Glück hatte. Andere Bilder, als er das Geld nahm, das Tonio gespart hatte, ihn lobte und am nächsten Morgen damit verschwunden war. Auch Bilder, als sie zusammen Pizza aßen. Klein wie er war, wusste Tonio nicht, dass die rote Salami die feuerscharfe ist. Plötzlich brannte sein ganzer Mund. Papa gab ihm Wasser, nahm eine Serviette und wusch damit Tonios Zunge ab. Er pulte jedes Salamistück vom Pizzaboden und aß es selbst. Da liebte Tonio seinen Vater und war beeindruckt, wie furchtlos er das scharfe Zeug verdrückte.
» Ich wohne allein « , antwortet er.
» Geht das? « Julias Wangen sind rot vom Laufen und von der Wärme hier drin. Sie sieht süß aus. » Wie läuft das mit der Schule? «
Tonio findet die Unterhaltung einseitig. Mehr von seinem unkonventionellen Leben will er nicht preisgeben. » Und wo gehst du zur Schule? «
» In Düsseldorf. «
» Wie ist es da? «
» Gut. Groß. Teuer. Wir haben auch Wasser. Einen Fluss. «
» Und ihr wohnt in einem Haus, du und deine Familie? «
» Früher mal. Jetzt ist es eine Wohnung. Und es ist keine Familie mehr. «
Tonio will mehr hören. Das ist ein Thema, bei dem er sich auskennt. Abschied, Trennung, Neubeginn, immer wieder neu beginnen.
So kurz sie einander kennen, Julia erzählt frei von der Leber weg. Vielleicht weil sie nicht in Düsseldorf ist, wo ihre Freundinnen es weitertratschen können. Vielleicht weil die Fremde der beste Ort ist, um sein Herz auszuschütten. » Die Scheidung ist nicht Papas Schuld. Zugleich ist es natürlich Papas Schuld. Er ist eine Schlaftablette. Der schlimmste Biedermann von Düsseldorf, ach was, von ganz Nordrhein-Westfalen. Meine Mutter hatte keine Lust, den Rest ihres Lebens mit einem Langweiler zu verbringen. Sie wollte Skifahren lernen. Er sagte, zu gefährlich. Sie wollte einen Tanzkurs besuchen. Er sagte, nach dem Dienst sei er zu ausgelaugt dafür, aber Mama soll den Tanzkurs ruhig belegen. Das tat sie. Und lernte Michael kennen. Jetzt habe ich ein Zimmer in Michaels Fünfzimmerwohnung und kriege bald ein Schwesterchen. Und Papa wohnt in dem viel zu großen Haus in Düsseldorf-Hubbelrath allein. Jedes zweite Wochenende besuche ich ihn. «
» Wieso nimmt er dich nach Venedig mit? « Tonio legt den Strohhalm
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