Diese eine Woche im November (German Edition)
Humus. Sie gossen ihn gemeinsam. Ihre Mutter brachte drei Gläser Apfelschorle, sie nannten es Champagner. Die Familie stieß an und taufte den Busch auf den Namen Juliastrauch. Sie begossen ihn mit Apfelsaft. Inzwischen muss Herbert den Juliastrauch jedes Jahr zurückschneiden, weil er dem Garten sonst die Sonne nimmt. Ob er sich auch noch daran erinnert? Sie schluchzt lauter.
Herbert scheint seine Gefühle unter Kontrolle zu haben. Er ist Polizist. Sein oberstes Gebot ist, das Leben Unschuldiger zu schützen. Das Leben seiner Tochter.
» Du schaffst das « , sagt er und klingt dabei so optimistisch wie möglich. » Geh zur Polizei. Die holen mich hier bestimmt raus. «
» Dazu müssten sie das Haus stürmen. Dabei könntest du … «
» Daran wollen wir nicht einmal denken. « Er gibt ihr einen Kuss auf die Stirn, schiebt sie sanft zur Seite und greift wieder zur Stange. » Wenn Mama wüsste, was wir gerade durchmachen. « Er lächelt. » Wo sie immer behauptet, wir unternehmen kaum noch was miteinander. «
Julia grinst unter Tränen. Sie nimmt das Brecheisen und stößt zu.
23
E s ist Nacht geworden. Eine eisige Nacht. Das Wetter schlägt um, von den Alpen zieht Kaltluft heran. Der Nebel ist undurchdringlich. Ein beißender Wind fegt durch die Gassen, über die Brücken und Anlegestege. Wer nicht unbedingt draußen sein muss, zieht sich an ein gemütliches Kaminfeuer oder ins Bett zurück. Tonio friert in seiner dünnen Jacke. Im Schutz des Nebels erreicht er die Adresse. Er kennt dieses Haus, ist schon öfter daran vorbeigekommen. Das Erdgeschoss mit seinem reich verzierten Eingang liegt fast unter Wasser. Der Putz ist abgefallen, die Ziegelmauern verrotten. Sämtliche Fenster wurden zugemauert. Eine schmale Brücke führt aus der gegenüberliegenden Gasse zum Hauseingang im ersten Stock. Die Tür ist vom Schwamm befallen und mehrfach verriegelt. Das ist nicht ungewöhnlich. Es soll verhindern, dass sich Obdachlose in den leer stehenden Gebäuden Venedigs einnisten.
Tonios Lage ist vertrackt. Er weiß nicht, ob er vor dem richtigen Haus steht. Der Palazzo der Cornianis existiert offiziell nicht mehr. Als man die Familie 1916 aus Venedig vertrieb, wurden all ihre Besitztümer beschlagnahmt. Den Cornianis gehörten fünf Häuser. Drei davon in der Altstadt, eines steht auf dem Lido, und es gibt noch ein Landgut in der Nähe von Chioggia.
Rinaldo hat in den Archiven des Grundbuch- und des Katasteramtes nachgeforscht und fand diese Immobilien. Er verfolgte die Besitzerlinie zurück. Das Ergebnis ist verwirrend. Eins der Häuser wurde abgerissen. Das zweite, den eigentlichen Palazzo der Cornianis, hat man in ein Luxushotel umgewandelt. In das Haus am Lido zog eine Wirtschaftsprüfungsfirma. Das vierte Haus ist baufällig. Es wurde als unbewohnbar deklariert und liegt in der Nähe des Markusplatzes. Ein Gebäude in einer solchen Lage verrotten zu lassen, fand Rinaldo verdächtig. Er recherchierte, dass das Haus von einer Treuhandgesellschaft verwaltet wird, die ihren Sitz in Paris hat.
» In all den Jahren muss es Angebote gegeben haben, das Haus zu kaufen « , erklärte der Weißhaarige Pippa und Tonio. » Trotzdem steht es noch unter der Verwaltung dieser Firma, die nichts unternimmt, es zu sanieren. «
» Dort muss ich hin « , sagte Tonio impulsiv. » Das ist ihr Versteck. «
» Nicht unbedingt. « Rinaldo zeigte auf die Karte von Venedig. » Das Haus, in das die Wirtschaftsprüfer eingezogen sind, liegt am offenen Meer. Das wäre ein Vorteil bei einer Flucht. « Sein Finger wanderte zu dem Luxushotel in der Nähe von Santa Maria della Salute. » In einem großen Hotel bewegen sich die unterschiedlichsten Leute. Es wäre ein idealer Treffpunkt für eine Geheimgesellschaft. «
Es blieb nichts weiter übrig, als sämtliche Adressen abzuklappern. Pippa übernahm das Hotel, Tonio entschied sich für die Ruine beim Markusplatz.
Er läuft über die Brücke. Er rüttelt am Tor. Eine Kette, mehrere Vorhängeschlösser. Sie sind nicht etwa alt und verrostet, sie wirken neu. Tonios Blick fällt auf die Regenrinne. Wäre die Nacht nicht so unwirtlich, würde der Nebel nicht das Bild verschleiern, es wäre ausgeschlossen, ungesehen an einer venezianischen Fassade hochzuklettern. Doch heute Nacht hat sich Venedig früh zu Bett gelegt. Tonio wagt es.
Von der Brücke führt ein Gesims die Mauer entlang. Er klettert über das Brückengeländer, presst sich an die Wand und betritt das schmale Band. Unter ihm ist das
Weitere Kostenlose Bücher