Diese eine Woche im November (German Edition)
Wasser im weißen Nebel kaum auszumachen. Er weicht einer abgebrochenen Stelle aus, balanciert weiter und erreicht den Punkt, wo die Dachrinne das Gesims durchstößt.
Du musst verrückt sein, denkt er. Das Rohr ist alt und halb verrostet. An den Haken sollte man sich allerdings gut festhalten können. Tonio fasst den ersten und zieht sich hoch. Schon ist er einen Meter höher und noch einen, er erreicht ein Fenster. Links davon hängen die Reste eines Balkons. Kletternd kann er ihn nicht erreichen, er muss springen. Und wenn die Brüstung nachgibt? Dann landet er im Kanal.
Tonio nimmt Schwung, stößt sich ab, springt – und fängt sich. Das Geländer hält. Er klettert auf den Balkon und schaut sich hastig um. Hat man ihn bemerkt? Ein paar Häuser entfernt tuckert ein Motorboot vorbei. Auf der Gasse ist keine Menschenseele. Vorsichtig rüttelt er an der Balkontür, zieht fester daran, noch fester. Das alte Holz bricht, er hält die halbe Tür in seinen Händen. Dahinter entdeckt er wieder massiven Backstein. Das ganze Haus ist zugemauert.
Zu der Regenrinne gibt es kein Zurück. Der einzige Weg führt nach oben. Tonio blickt die Mauer hoch. Sie hat unter der Witterung gelitten. Zwischen den ausgeschwemmten Ziegeln bemerkt er alte Zuganker, Granitblöcke wurden eingeschoben, um die Konstruktion zu stützen. Hier müsste er sich hochziehen können.
Plötzlich hört er Musik. Irgendwo spielt eine Trompete. Das muss das Echo sein. In dieser Stadt weiß man nie, woher ein Ton kommt. Die Wellen reflektieren die Klänge. Tonio lauscht – jetzt nichts mehr. Er schüttelt den Kopf. Selbst wenn sich die Verbrecher hier verstecken sollten, würden sie wohl kaum Trompete blasen. Er klammert sich an einen Vorsprung und klettert weiter. Wenn er das Gesims im zweiten Stock erreicht, gelangt er von dort zur Regenrinne und kann den Abstieg wagen.
Diesmal kommt das Geräusch von unten. Dort tut sich etwas. Es rumort, man hört Schläge auf Stein. Tonio späht in die Tiefe. Seine Griffhand zittert, unmöglich, sich in dieser Lage länger festzuhalten. Er sucht besseren Stand. Wäre der Nebel nicht so dicht, wäre die Straßenbeleuchtung nicht so alt, könnte er erkennen, was das Geräusch hervorruft. Was ist das Helle dort unten? Etwas schiebt sich aus der Mauer. Eine Jacke, eine Schulter, ein Arm. Tonio kneift die Augen zusammen. Ein Kopf mit hellem Haar. Das ist ein Frauenkopf. Das Haar fällt über die Schultern. Sie dreht sich um.
» Julia –! «
In dem Augenblick, als er den Namen flüstert, verliert Tonio das Gleichgewicht. Sein Fuß gibt nach, die Hand verliert den Griff, zu spät tastet er um sich. Der Sog erfasst ihn, er stürzt. Mit offenen Armen, den Blick nach unten, fällt er auf den Nebel zu. Prallt auf ein Hindernis – der Balkon –, Tonio wird zur Seite geschleudert. Und weiter geht es abwärts. Er rast auf die Person zu, an die er all die Zeit gedacht, um die er sich so sehr gesorgt hat. Es ist ein Sturz zu Julia und selbst im Augenblick des Unglücks macht ihn das froh.
Mit ausgebreiteten Armen fällt er an ihr vorbei. Im Bruchteil der Sekunde sieht er ihr Gesicht. Einen Moment später sieht er nichts mehr. Harter Aufprall, alles wird grün und dunkel. Eiskalt durchfährt es ihn.
Tonio fällt nicht zum ersten Mal in diese Brühe. Das abgestandene Wasser Venedigs hat nur wenig Zufluss, unter der Oberfläche ist die Stadt eine Kloake. Einmal fiel Tonio als Kind hinein, einmal auf der Flucht, einmal zum Spaß. Noch nie im November. Der Schock, die Kälte rauben ihm den Atem. Er strampelt, macht ein paar kräftige Stöße und taucht auf. Er spuckt und reißt die Augen auf. Wäre es nicht so verdammt kalt, es wäre ein Anblick wie im Traum. In einer Maueröffnung hängt das Mädchen, das er liebt. Ähnlich erschrocken wie Tonio, starrt sie dorthin, wo die Wasserbombe einschlug. Julia kann es nicht glauben.
» Lauf zu Commissario Gianfranco « , waren die letzten Worte ihres Vaters gewesen, bevor sie sich durch die Maueröffnung zwängte. » Er wird mich befreien. « Julia hörte seine Worte, schaute in sein Gesicht und glaubte ihm nicht. Er wusste, wie schlecht seine Chancen standen. Sie umarmte den großen Mann, ihren Vater, der nur einen Schuh anhatte. Das Fenster hatten sie so weit aufgebrochen, dass Julia in den Luftschacht klettern konnte. Im Dunklen tastete sie um sich. Sie wollte gar nicht wissen, in was sie da hineinfasste, bis sie das Loch in der Außenwand erreichte. Es war enger als erwartet. Mit
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