Diese eine Woche im November (German Edition)
den Schultern voraus schaffte Julia es nur ein kleines Stück. Sie steckte fest. Drehte sich um. Fasste noch einmal in den Schlamm, stützte die Arme auf und schob die Beine in die Maueröffnung. Sie hievte sich hoch. » Es geht « , rief sie, ohne zu wissen, ob Herbert sie noch hörte. » So geht es! « Julia war bis zur Hüfte draußen. Ihre Füße suchten Halt. Mit den Zehen ertastete sie einen Vorsprung und zwängte den Oberkörper ins Freie. Als Letztes kam der Kopf. Ein Blick zurück, kein Laut war aus dem schwarzen Loch zu hören, hinter dem ihr Vater auf Rettung wartete. » Bis gleich, Papa « , flüsterte sie.
Ein Sirren, ein unerklärliches Schwirren. Es kam von oben. Sie erschrak. Hatte jemand sie beobachtet? Kamen die Typen schon, um sie in die Zelle zurückzuschleppen? Julia drehte sich um. Ein Schrei. Eine Gestalt fiel an ihr vorüber. Ein Mann – kein Mann, ein Junge. Ihre Augen trafen sich. Er fiel in das weiße Bett, das der Nebel über alles breitete. Der Junge, der vom Himmel fiel, knallte ins Wasser.
Dort taucht er auf, prustet und schwimmt auf sie zu. Sie sieht diesen Jungen nicht zum ersten Mal.
» Jul… Jul… Julia « , flüstert, nein stammelt er vor Kälte.
Wieso erkennt er mich? Wundert er sich nicht, dass ich mitten in der Nacht aus einer Mauer auftauche? Gehört er etwa auch zu denen?, durchfährt Julia der schreckliche Gedanke. Was macht er hier?
» Komm « , zischt der Junge. Er ist nur noch ein kleines Stück von ihr entfernt.
» Wohin? «
» Weg von hier! «
Julia klammert sich an die Öffnung. Unter ihr schlägt das Wasser gegen Stein.
» Beeil dich! Klettere auf die Brücke! «
» Was machst du hier? «
» Sag ich dir später. Benutz den Mauervorsprung! «
Das Mauerband, auf dem sie steht, führt zum Brückenbogen. Von dort kann sie an Land steigen, ohne nass zu werden. Sie hangelt sich voran, während der Junge neben ihr herschwimmt. Gleichzeitig erreichen sie die Brücke. Er zieht sich an einem Pfeiler hoch.
» Ich will wissen, was du hier tust. « Sie streckt die Hand aus und hilft ihm aus dem Wasser.
Triefend klettert er über das Geländer, sinkt in die Hocke und umfasst sich mit beiden Armen. » Verd-dammt, ist das kalt. «
» Sag schon! «
» Ich hab-be dich ges-sucht. «
» Warum? «
Er schaut sie an und rubbelt seine Schultern. Er weiß nicht, wie er ihr erklären soll, weshalb er Himmel und Hölle in Bewegung setzte, Julia zu finden. Da steht sie, verwirrt, zerzaust, dreckig von oben bis unten. Er hat sich zu ihr durchgeschlagen. Dieser Triumph lässt Tonio lächeln.
» Was gibt’s zu grinsen? «
» Nichts. « Er steht auf und nimmt ihre Hand. » Komm jetzt. «
Sie mag es nicht, wenn man unaufgefordert ihre Hand nimmt. » Mein Vater ist dadrin! «
» Ich weiß. «
Sie zuckt zurück. » Woher weißt du das? Kennst du diese Leute? «
» Nein. «
» Sag mir sofort – «
» Julia! Wenn die uns entdecken, sind wir tot! « Er schreit es flüsternd. Sie zögert. » Vertrau mir. «
Wie soll sie ihm vertrauen? Ein Junge, aufgetaucht aus dem Nichts. Bringt ihr die Brieftasche zurück, lauert vor ihrem Hotel, führt sie in eine Bar. Was weiß sie von ihm? Er hat keine Mutter, sein Vater säuft. Er hat die Angewohnheit, immer dann aufzutauchen, wenn Julia in Schwierigkeiten ist. Er fällt vom Himmel, fordert sie auf, ihm zu folgen. Das ist mehr, als Julia verkraftet. Das ist verdächtig. Sie hat bloß keine Ahnung, worauf der Verdacht hinweist. Warum tut der Junge das? Er friert, er schlottert. Weshalb macht Julia trotz ihres Misstrauens den ersten Schritt über die Brücke? Weil es vernünftig ist: nur weg von hier.
» Ich muss zur Polizei « , sagt sie.
» Ich kenne den Weg. «
Nebeneinander laufen sie über die Brücke.
24
N ur wenige Gassen von ihrem Gefängnis entfernt bleiben sie stehen. Vor ihnen öffnet sich der Markusplatz. Die Kolonnaden, die Basilika, die Ala Napoleonica – über allem ragt der Campanile auf. Der Platz, auf dem sich sonst Tausende tummeln, liegt menschenleer vor ihnen. Es muss zwei Uhr nachts sein, eine unwirtliche Nacht, in der sogar die berühmteste Piazza Venedigs sich entvölkert hat.
Tonios braun gebranntes Gesicht ist fahl, er zittert am ganzen Körper. » Norm-malerweise wimmelt es h-hier von Carabinieri. «
» Du musst ins Warme. Warte mal. « Sie fasst ihn an den Armen und rubbelt kräftig. Ihre Gesichter kommen sich nah. Tonio sieht sie an, ihr schmaler Mund, die ernsten Augen, eine Haarsträhne wippt auf
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