Diese eine Woche im November (German Edition)
hinweg. Am anderen Ende, neben der versperrten Tür, führt eine Leiter in die Tiefe. Wahrscheinlich benutzen die Wartungskräfte sie, wenn die Anlage abgeschaltet ist. Pippa tippt an das Eisen. Heiß, natürlich, aber es lässt sich aushalten. Bevor sie zu klettern beginnt, dreht sie sich um. Am andern Ende des Steges steht ein Junge. Er hat nichts an als Boxershorts. Die blauen mit dem Papageienmuster. Er trägt sie gern, im Sommer benutzt er sie als Badehose. Er hebt den Arm und winkt. Er ist so schrecklich weit entfernt.
Pippa hat Todesangst. Aber sie trägt auch die Liebe in ihrem Herzen. Die Liebe, die der Drache nicht verbrennen kann. Der Drache hat sein Futter aufgefressen, er macht Pause. Die Flammen aus seinen Nüstern werden kleiner und erlöschen. Pippa winkt zurück. Dann klettert sie in die Tiefe.
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E ine Lampe aus buntem Glas taucht das Zimmer in viele Farben. Das ist kein Krankenzimmer. Es ist ein angenehmer Raum. Man hat Rinaldo verbunden und versorgt, man hat ihm Medikamente verabreicht. Ein Plastikröhrchen pustet Sauerstoff in seine Nase. So behandelt man einen Gast, keinen Feind.
Die Tür geht auf. Schwungvoll betritt ein Mann das Zimmer. Sein schütteres Haar ist in die Stirn frisiert. Dichte Brauen lassen die Augen in den Höhlen verschwinden. Er trägt einen Gegenstand unterm Arm, in schwarzen Samt gehüllt.
» Jahrelang ging das Gerücht um, dass ein gewisser Robin Hood, ein Wegelagerer des Internets, sich in Venedig versteckt hält « , sagt der Mann ohne Begrüßung. » Sind Sie das? «
Zu verblüfft, um zu antworten, liegt Rinaldo regungslos da.
» Wenn Sie es sind, freue ich mich, Sie kennenzulernen. « Der Besucher stellt den verhüllten Gegenstand auf die Kommode. » Ihre Bescheidenheit ist fehl am Platz, Rinaldo. Wie ist Ihr richtiger Name? « Er lächelt. » Im Grunde ist das auch ganz unwichtig. «
Rinaldo bewegt den Arm. Der Infusionskatheter schmerzt. » Woher haben Sie von mir gehört? «
» Wenn jemand in der Lage ist, die großen Fische im Haifischbecken zu erschrecken, dann wird er früher oder später auffällig. «
» Drücken Sie sich klarer aus. «
» Es hält sich das Gerücht, dass es auf den internationalen Märkten einen Verrückten gibt, der völlig unberechenbar gegen die allgemeinen Trends setzt und dadurch riesige Finanz-Tsunamis auslöst. Er erschafft ökonomische Fantasiegebilde, um sie gleich darauf wieder platzen zu lassen. Er verursacht Katastrophen. Doch das Verrückteste an ihm ist, dass er es nicht für den Profit tut. Im Gegenteil. Er zerstört Profit. Er zerstört Vermögen. Er zerstört die Leute, die mit Vermögen jonglieren. Dieser Mann, dieses Phantom, ist das geheime Krebsgeschwür der Märkte. Und niemand kann sagen, wann er das nächste Mal zuschlagen wird. «
Auch wenn es Rinaldo beeindruckt, wie präzise der Besucher sein Lebenswerk beschreibt, stört es ihn, das ausgerechnet von diesem Mann zu hören.
» Ich bin Marcantonio Corniani. « Er setzt sich auf die Bettkante. » Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Mut. «
» Und wenn ich Ihren Glückwunsch nicht will? «
» Das sollten Sie aber. Wir kämpfen auf der gleichen Seite. «
» Das bezweifle ich. «
Statt einer Antwort läuft der Besucher zur Kommode und zieht das schwarze Tuch weg. Das Große Siegel der Trucidi ist von beeindruckender Schönheit. Das farbige Licht bricht sich in den diamantenen Schlangenhäuptern. Der Spiegel in der Mitte zeigt ein verzerrtes Bild Cornianis.
» Ich führe meinen Kampf unter diesem Zeichen « , sagt er stolz. » Die Trucidi waren stets Streiter für die Rechte anderer, für Benachteiligte, die ihren Kampf nicht selbst führen können. «
» Sich außerhalb des Gesetzes zu stellen, beweist noch keinen besonderen Kampfesmut. «
» Und wie ist das mit Ihnen, Rinaldo? « Lächelnd legt Corniani den Kopf zur Seite. » Sie haben so ziemlich jedes Gesetz der Marktwirtschaft gebrochen. Sie haben keine Skrupel, Kinder als Straßendiebe loszuschicken. Sie plündern Kreditkarten und die Handtaschen alter Damen. Ausgerechnet Sie wollen mir etwas über Gesetzestreue erzählen? «
Rinaldo packt den Galgen über sich und zieht sich hoch. » Woher wissen Sie das alles? «
» Ihr Computer hat es mir verraten. « Corniani wirft einen Blick auf die Uhr. » Ich täte nichts lieber, als mit Ihnen weiter über den ewigen Kampf gegen die Habgier des Menschen zu plaudern. Leider ist mein Zeitplan dicht gedrängt. «
» Natürlich « , antwortet Rinaldo. »
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