Diese eine Woche im November (German Edition)
dunkelgrauen Mantel der Angst. Er streichelt ihren schönen Kopf. Wie zart der Hals ist, wenn ihn kein Haar bedeckt. Ihre Hände umklammern seine Oberarme. Aus dem Streicheln wird ein Klammern, sie will ihn noch näher an sich heranholen. Sie zieht sich an ihm hoch. Ihre Brust an seiner. Ihre Gesichter voreinander.
» Tonio « , flüstert sie, nicht liebevoll, eher ein Seufzen, nach dem nichts mehr kommt. Er antwortet, Laute nur, Sprache ohne Worte, er hält ihr Gesicht in seinen Händen. Die Traurigkeit, die alles sinnlos erscheinen lässt, auch ihren Kuss. Er küsst sie, vielleicht kann er die Traurigkeit mit ihr teilen. Er nimmt ihre Berührung an, erwidert sie, aneinandergepresst umschlingen sie den Körper des anderen. Ihre Beine um seine Hüften, seine Hände streicheln, halten fest, da ist Rücken, sind Rippen, Bauch und Brüste. Ihr Mund entdeckt seinen Hals. Sie küsst, nein beißt, nein frisst ihn, sie macht Tonio schreien. Er stöhnt und treibt mit ihr weiter.
Finger gleiten ineinander, Lippen, Zähne, auch ihre Augen manchmal. Ein Blick fragt den anderen, was sie tun. Sie begreifen nichts, wollen nichts wissen. Die Gedanken sind woanders, Verzweiflung ist überall. Und doch das Glück, nicht wahr, das Glück hat sich hereingeschlichen. Es besucht und überrascht und überfällt sie. Wie verschließt man sich dem Glück? Das sind Sekunden, in denen alles andere verdorren muss. Minuten, denen Leere und Ausweglosigkeit folgen werden, wahrscheinlich Reue. Aber das Glück schickt man nicht weg, niemand kann das. Es stülpt sich über uns, über sie, verzweifelt treiben sie durch den Rausch. Noch nie bis zu diesem Augenblick hat Julia in Tonio den Mann erlebt, noch nie hat er sich einer Frau so vollkommen geöffnet. Es ist das eine und das schmerzhaft einzige Mal, dass sie ganz Mann und Frau füreinander sind.
Der Preis, den sie bezahlen, ist hoch. Mitten in dem unfassbar Neuen muss Tonio an Pippa denken, die vielleicht in der Schwärze, im heißen Tod gefangen ist, Pippa, die das Opfer auf sich nahm, während er zurückblieb. Tonio liebt die schöne Julia, er rast mit ihr in die Helligkeit und kann zugleich das tapfere Mädchen nicht vergessen, mit dem er alles teilte, bis auf das eine. In seiner Vorstellung sieht er den scheuen Glanz in Pippas Augen, die tausendfache, zugleich unverwechselbare Geste, mit der sie das Haar zurückwirft. Er denkt an ihre zarten Füße, wenn sie am Lido nebeneinander durch den Sand liefen. Er ist krank vor Sorge, zugleich dem Glück mit Julia hingegeben. Und das zerreißt ihn. Er schaut in ihre Augen, wie sie groß und staunend werden und sich langsam schließen. Er fühlt sie an sich gepresst und verliert Pippa keinen Moment aus dem Blick. Das ist unerträglich, Tonio schreit, nicht vor Verzückung. Er wälzt sich zur Seite, reißt Julia mit sich, dreht sich ohne sie weiter, kauernd kommt er hoch, starrt sie an, als ob er sie nicht kennen würde.
» Was ist? « , sagt sie außer Atem. » Was hast du? «
Reden kann er nicht, drängt sich wieder in ihre Arme. Sie liegen da, ihr Atem, ihre Glieder. Sie werden leiser, draußen keucht der Drache, ächzt und vertilgt Müll. Vielleicht hat er auch Pippa verschlungen. Tonio will in diesem Moment glücklich sein. Julia möchte glücklich sein, losgelöst und ausgelassen. Sie haben die Schönheit des Moments gekostet, sie werden es nie vergessen. Doch kein Morgen könnte greller, kein Erwachen quälender sein als diese spürbar verrinnende Zeit, während der sie nebeneinanderliegen.
» Es tut mir leid « , flüstert Tonio.
Ein unerhörtes Bekenntnis. Julia versteht es und fühlt vielleicht deutlicher als er, dass sich Tonios Herz geöffnet hat. Seit der Begegnung mit ihr tat sich die verschlossene Grotte seiner Gefühle auf. Doch wo er Julia als Herzensgefährtin erwartet hat, kam ihm eine andere entgegen. Eine, die er schon lange kennt. Ein Mädchen, das für ihn mehr Junge, Gefährte, Retter war als alles andere. Jetzt, da er die Wahrheit ahnt, da sein Gefühl zerrissen wird zwischen der einen und der anderen, ist es zu spät.
Vielleicht hat er Pippa erst im Moment des Abschieds durchschaut, ohne zu wissen, dass es ein Abschied für immer sein könnte. Das ist so unfassbar, dass Tonio darunter förmlich begraben wird. Julia aber, das kluge Mädchen aus Düsseldorf, spürt viel davon. Deshalb liegt sie regungslos da, denkt und erinnert sich – die Minuten, als sie allein über den Markusplatz rannten, das Telefongespräch
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