Diese eine Woche im November (German Edition)
den Mitteln der Menschenverachtung durchsetzen wollen. «
Corniani geht, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Rinaldo sinkt zurück. Er lässt den Atem ein- und ausfließen. Er sammelt Kräfte. Am Galgen zieht er sich hoch und schlägt die Decke zurück. Vorsichtig setzt er die Füße auf den Boden. Wie unansehnlich seine Beine sind. Weißhäutig, sehnig, von Adern durchzogen. Er ist ein alter Mann, verwundet, mit einem kaputten Herzen. Was soll er ausrichten gegen jene, die ihn festhalten? Wie kann er Hilfe herbeiholen, sich wenigstens bemerkbar machen?
» Hör auf zu jammern « , beendet er seine Zweifel. » Dein Kopf funktioniert. Er ist das Beste an dir. Denk nach! «
Die Nadel, die aus Rinaldos Unterarm ragt, der Beutel, der über ihm baumelt, das ist die Wirklichkeit. Ließe sich durch bloße Gedankenkraft eine andere Wirklichkeit erschaffen? Er will es wenigstens versuchen. Sein Blick wandert zur Tür. Haben sie ihn eingesperrt oder ist er ihnen dafür nicht gefährlich genug? Er holt den Infusionsständer an seine Seite und zieht sich langsam daran hoch.
» Na bitte, du stehst « , ermuntert er sich. » Jetzt zeig mal, dass du auch laufen kannst. «
Das angeschossene Bein knickt weg. Nur mit Mühe hält er sich fest.
» Mach schon, du Hinkebein! «
Wie ein Vogel auf einem Bein hüpft er zur Tür, krallt sich dabei am Ständer fest und rollt ihn weiter. Er hat die Bodenkante nicht gesehen. Ein Rad hängt fest, Rinaldos Welt neigt sich zur Seite. Seine Muskeln zittern, gleich wird er stürzen. Pass auf deinen Kopf auf, denkt er, während er fällt. Dann schlägt er lang hin.
35
E r küsst ihr kleines Ohr. Er küsst die Schläfe mit dem Haarflaum, ihr weiches Haar. Zärtlich bedeckt er ihre Wange mit Küssen, seine Lippen nähern sich ihrem Mund. Er begegnet ihrem Blick. Sie legt den Arm um seinen Nacken und küsst ihn voll Hingabe. » Seit wann bist du in mich verliebt? « , fragt sie. » Vom ersten Augenblick an. « Er berührt ihre Schultern, den Rücken, ihre Taille. Seine Hände streicheln sie. Ihre Haut ist hell, ein Leberfleck an ihrem Schlüsselbein. Seine Hand gleitet auf ihre Brust.
Tonio schreckt hoch. Mit aufgerissenen Augen starrt er in den quälend hellen Raum. Wie lang hat er geschlafen? Die Hitze ist kaum noch auszuhalten. Sein Körper ist von einem klebrigen Film bedeckt. Er reibt sich die Augen. Mit angezogenen Knien liegt Julia auf der anderen Seite der Matratze.
Nachdem Pippa in den Schlund des Drachen geklettert war, verloren sie sie aus den Augen. Rauch und schwarzer Qualm, das Feuer wurde kleiner, die Brennkammer verdunkelte sich. Als die Flammen wieder hochschlugen, war Pippa verschwunden. Julia und Tonio wagten sich nicht auszumalen, was mit ihr passiert war. Und taten es doch. Sie beschworen die Möglichkeit, dass Pippa dem Brand entkommen war. Vielleicht gab es da unten mehrere Zugänge, Fluchtwege. Mit Pippas Flinkheit und ein bisschen Glück schien es nicht unmöglich. Minuten verstrichen und jede nahm etwas von ihrer Hoffnung mit. Ihre Beteuerungen wurden schwächer, die Befürchtung wurde größer. Mehrmals noch schaute Tonio in den Höllenofen, wartete und lauschte. Später lagen sie auf der Matratze, anfangs Hand in Hand, dann jeder für sich.
Wie hat er nur einschlafen können? Tonio springt hoch, läuft auf und ab. Er könnte es sich nie verzeihen, wenn ihr etwas – wenn ihr das Schlimmste zugestoßen sein sollte! Schweiß rinnt ihm über die Schläfe. Wieso hat er sie gehen lassen? Festhalten hätte er sie müssen! Schwach war er, mutlos.
» Was hast du? « Julia ist wach, doch sie rührt sich kaum. Keine Kraft, um noch aufzubegehren. Sie glaubten, schlimmer könne es nicht kommen, und doch ist es schlimmer geworden. Aus der Kälte der nächtlichen Lagune haben sie sich gerettet, sind dem falschen Polizisten entkommen, sie haben sogar den Überfall auf das Hauptquartier überlebt. Sie sind am Leben, unverletzt, aber mit Julia geschieht etwas, was sie von sich nicht kennt. Der Funke, ihr Glaube an das Leben, beginnt zu erlöschen.
» Nimm mich in den Arm « , sagt sie, ohne aufzuschauen.
Kniend zieht er sie an sich, Julia umschlingt ihn. Ihre warme Haut an seiner, ihr Gesicht neben seinem, ihr schwacher Atem. Das ist so ähnlich wie in seinem Traum und ist doch ganz anders. Düstere Zärtlichkeit, verzweifelte Nähe. In der Seele verwundet, drängen sie sich aneinander. Irgendwo ist Liebe, aber sie hat keinen Glanz. Die Sehnsucht verbirgt sich unter dem
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