Diese Sehnsucht in meinem Herzen
Matt, nun merk dir das doch endlich!“
6. KAPITEL
Die Akte lag geöffnet vor Nate, und auf seinem ganzen Schreibtisch waren Unterlagen verteilt. Da klingelte das Telefon. „Hallo, Nathan“, grüßte ihn sein Kollege Jeffers. „Ich wollte nur mal fragen, wie Sie mit dem Fall Stapleton vorankommen. Haben Sie vielleicht Fragen dazu?“
Und ob er Fragen zu diesem Fall hatte! Dem Polizeibericht nach hatte Mrs.
Stapleton eine glühende Zigarette am Arm ihrer elfjährigen Tochter ausgedrückt und sie anschließend ein ganzes Wochenende lang ohne Essen in ihrem Zimmer eingeschlossen – als Strafe dafür, dass das Mädchen das Geschirr nicht anständig abgewaschen hatte. Außerdem hatte die Mutter das Kind am Haar gepackt und daran gerissen, bis sie es büschelweise in den Händen hielt. Ja, dazu hatte Nate jede Menge Fragen, und alle begannen mit dem Wort Warum.
Aber er kam mit dem Fall schon klar. Schließlich hatte er wahrscheinlich gerade deswegen. Jura studiert: um solche Übeltäter wie Mrs. Stapleton hinter Gitter zu bringen. Allerdings brauchte Jeffers davon nichts zu wissen.
„Bei mir läuft alles bestens“, sagte Nate daher. „Wenn’s passt, komme ich in etwa zwei Stunden mal bei Ihnen vorbei und zeige Ihnen, was ich bisher getan habe.“
„Hört sich gut an. Ich würde Ihnen nämlich gern bald weitere Fälle dieser Art übergeben. Wir sehen uns dann später.“ Schon hatte Jeffers aufgelegt.
Nate barg das Gesicht in den Händen. In seinem Kopf wütete ein pochender Schmerz, und seine Augen waren ganz rot, weil er viel zu wenig geschlafen hatte. Gestern war er noch lange wach geblieben, um an diesem Fall zu arbeiten.
Und als Nate sich schließlich hingelegt hatte, wachte er etwa jede Stunde auf und ertappte sich dabei, dass er nach Schritten im Apartment über ihm lauschte. Er wartete auf ein Zeichen, dass Josey von ihrer heiß ersehnten Verabredung zurückgekehrt war – aber nichts. Also schloss er jedes Mal wieder die Augen, um sich eine weitere Stunde lang in die Fänge eines schrecklichen Albtraumes zu begeben. Um fünf Uhr morgens schließlich konnte er es nicht mehr aushalten. Er sprang schnell unter die Dusche, zog sich einen Anzug an und fuhr mit der um diese Zeit geradezu geisterhaft leeren U-Bahn ins Büro.
Doch wo auch immer er sich gerade aufhielt – ob in der Wohnung, im Zug oder hier im Büro –, in der Einsamkeit und Stille um ihn herum hatten ihn die Erinnerungen, die er so lange verdrängt hatte, eingeholt, um ihn zu quälen und nicht mehr loszulassen.
Er war eben nicht wie Derek. Die Schläge, die wüsten Beschimpfungen, der abgrundtiefe Hass… das alles konnte er nicht so einfach hinter sich lassen. Sein Vater war ein Teil von ihm geworden. Und jetzt, wo Nate sich mit diesen Fällen beschäftigte, kamen all die alten Gefühle wieder an die Oberfläche. Aber vielleicht war das ja ganz gut so. Die Wut, die er in sich spürte, gab ihm die Energie, diese Unmenschen bis in die letzte Instanz zu verfolgen. Und am Ende eines Arbeitstages würde er dann einfach die Bürotür hinter sich schließen und seinen eigenen Schmerz tnj^den Akten dort zurücklassen. So zumindest hatte er sich das vorgestellt. Dabei hatte er nicht mit Sara gerechnet.
Das Mädchen hatte ihn einfach so angesprochen, als wäre er ein ganz normaler Mensch. Als gäbe es kein Monster in ihm, das nur darauf wartete, losgelassen zu werden, um Schaden anzurichten. Ihr Vertrauen und ihr unschuldiges Lächeln machten ihm Angst. Am liebsten hätte er sie gewarnt – vor allen schlechten Menschen dieser Welt.
Vor vielen Jahren, nachdem sein Bruder und er von zu Hause weggelaufen waren, hatte Derek ihn jede Nacht in den Arm genommen, um Nates schlimme Albträume zu vertreiben. „Keine Angst, er verfolgt uns nicht“, flüsterte Derek ihm in der Dunkelheit ihres kalten, feuchten Verstecks zu. „Er mag uns doch noch nicht mal. Da will er uns bestimmt nicht zurückhaben. Denk nicht mehr an ihn.“
Damals waren sie schon Teenager gewesen, trotzdem hatten sie sich ganz unbefangen in den Armen gehalten. Aus Angst zunächst, und schließlich aus Erleichterung.
Nate sah alles ganz deutlich vor sich, als sei es erst gestern gewesen, und er hatte Angst, dass irgendjemand etwas davon mitbekommen könnte. Seine Kollegen. Oder Josey.
Josey.
In ihrer Anwesenheit konnte man eigentlich nur fröhlich sein. Josey tat ihm gut, es war ihr gelungen, ihn mit ihrer Lebensfreude und Begeisterungsfähigkeit anzustecken. Aber so nah sie
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