Diesen Sommer bin ich dein
seinen Arm zu legen, hochmütig zu lächeln und davonzugehen. Es wäre die
untadelige Art, mit unmanierlicher Anmaßung umzugehen. Aber sie tat nichts
dergleichen.
Lord Ravensberg war
zu nichts gezwungen worden. Er hatte ihr ein Kompliment über ihre Augen
gemacht, wie töricht die Schmeichelei auch war. Und er war unleugbar attraktiv.
»Danke, Joseph«,
hörte sie sich sagen, »aber vielleicht habe ich noch ausreichend Kraft für
einen weiteren Tanz, bevor ich einer Erfrischung bedarf.«
Sie trat vor, legte
eine Hand auf den Arm des Viscounts und ließ sich von ihm auf die freie
Tanzfläche führen. Hätte sie das auch getan, wenn Joseph nicht die Stimme zu
ihrem Schutz erhoben hätte? Oder wenn Lord Sutton ihr nicht einen weiteren
Partner zugeführt hätte? Sie wusste es nicht. Aber jetzt, wo es zu spät war,
ihre Meinung zu ändern, erkannte sie jäh, dass die nächste Runde dem Walzer
gewidmet war - der intime Tanz, der von den schlimmsten Pedanten noch
immer als etwas skandalös betrachtet wurde und den sie selbst einst als sehr
romantisch empfunden hatte. Aber das war damals, als sie ihn beim Ball am
Vorabend ihrer. Hochzeit mit Neville getanzt hatte. Und niemals zuvor oder
danach.
»Solch eine ernste
Miene«, murmelte der Viscount, als sie sich zu ihm umwandte. »Seid Ihr wirklich
müde? Würdet Ihr es doch vorziehen, wenn ich Euch zum Büfett begleite?«
»Nein. Danke.« Es
war seltsam, wie sehr diese kleine Rebellion sie belebt hatte. Und tatsächlich
war sie froh, dass der Tanz ein Walzer war. Vielleicht könnte sie heute Abend
gleich mehrere Geister austreiben.
Das Orchester
spielte die ersten Takte. Lauren legte ihre linke Hand auf seine Schulter und
ihre Rechte in die seine. Sie konnte spüren, wie seine Hand mit Nachdruck die
Wölbung ihres Rückens berührte. Seine Größe ließ ihre Haltung noch inniger
wirken, als sie sich mit dem größeren Neville angefühlt hatte. Sie konnte kaum
vermeiden, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie konnte nicht vermeiden, seine
eindringliche körperliche Gegenwart zu spüren. Sie konnte die warme Kraft
seiner beiden Hände spüren. Sie roch den leicht moschusartigen Duft seines
Cologne. Sie atmete tief ein und sah ihm in die Augen.
Sie blickten warm
und wissend lächelnd in ihre - als spüre er ihr Unbehagen und es
belustige ihn. Wirklich ein gefährlicher Mann, dachte sie. Sie hatte sich in
Gegenwart solcher Männer noch nie wohl gefühlt. Sie hatte sie ihr Leben lang
gemieden.
Er führte sie in
den Walzer.
Die bitteren
Erinnerungen an den Ball am Vorabend ihrer Hochzeit und an den folgenden Tag
drohten sie einen Moment lang zu überwältigen. Sie beruhigte sich, indem sie
bewusst ihre Schritte zählte und sich auf den Rhythmus der Musik und die
Bewegung ihrer Füße konzentrierte. Aber es dauerte nicht lange, bis sie
erkannte, dass sie von einem vollendeten Tänzer geführt wurde. Es war leicht,
ja es fühlte sich beinahe an wie eine zweite Natur, ihre Schritte seiner
Führung anzugleichen und dem anmutigen, umherwirbelnden Muster zu folgen, das
er rings um die Tanzfläche beschrieb. Es war leicht, sich mit seiner Größe wohl
zu fühlen und die Tatsache zu schätzen, dass sie über seine Schulter blicken
und ihre Umgebung beobachten konnte.
Sie hatte den Abend
bisher nicht genossen - und das war noch eine Untertreibung. Aber sie
hatte sich mit dem Wissen getröstet, dass ihr Erscheinen bei solch einem
Gedränge einen nützlichen Zweck erfüllt hatte. jetzt, plötzlich, unerwartet,
amüsierte sie sich. Die üppigen Blumenarrangements und die Gewänder der anderen
Ladys verschmolzen zu einem prächtigen Kaleidoskop der Farben. Die Kerzen in
den Lüstern verschwammen zu wirbelnden Lichtbändern. Und der Walzer mit einem
Mann, der nicht nur die Schritte beherrschte, sondern die Magie des Tanzes
gewiss ebenso spürte wie sie, hatte etwas unleugbar Erheiterndes.
Aber dieser Gedanke
brachte Lauren nach einigen Minuten jäh in die Realität zurück. Sie tanzte in
den Armen eines Fremden, den sie erst vor einer Woche unter schockierenden,
skandalösen Umständen zum ersten Mal gesehen hatte, durch Lady Mannerings
Ballsaal. Joseph hatte versucht, sie davon abzuhalten, mit ihm zu tanzen. War
der Viscount also, trotz seines Titels und seiner Anwesenheit bei einem Ball
der vornehmen Gesellschaft, nicht ehrbar? War ihr erster Eindruck von ihm
richtig gewesen? War er ein Lebemann?
Einen Teil von ihr
kümmerte es nicht, er fühlte sich durch die Möglichkeit sogar
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