Dieser Mann macht mich verrückt
würde.
Durch den Rucksackstoff bohrte sich eine Ecke des Sammelalbums in ihren Fußknöchel. Sie wünschte, sie könnte es herausnehmen und die Fotos anschauen. Dabei fühlte sie sich immer etwas besser. Sie griff nach dem Armaturenbrett. »Sei vorsichtig! Da ist eine rote Ampel.«
»Na und? Hier fährt niemand.«
»Wenn du einen Unfall baust, verlierst du deinen Führerschein.«
»Quatsch, ich baue keinen Unfall«, protestierte Sal. Dann drehte er das Radio lauter und wieder leiser. »Ich wette, dein Dad hat mindestens zehntausend Mädchen gebumst.«
»Würdest du den Mund halten?« Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und sich eingebildet, sie wäre woanders. Aber wenn sie nicht auf Sals Fahrweise achtete, würden sie wahrscheinlich irgendwo dagegenkrachen.
Zum tausendsten Mal fragte sie sich, ob ihr Bruder von ihrer Existenz wusste. Noch nie war sie so aufgeregt gewesen wie letztes Jahr, als sie von ihm erfahren hatte. Da begann sie heimlich das Album anzulegen, klebte Artikel aus dem Internet und Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte hinein.
Auf diesen Fotos sah er so glücklich aus. Anscheinend dachte er nie was Schlechtes über andere Menschen und mochte sie alle, selbst wenn sie hässlich, dick und elf Jahre alt waren. Im letzten Winter hatte sie ihm einen Brief ans Chicago Stars-Hauptquartier geschickt. Sie bekam keine Antwort. Doch sie wusste, Leute wie ihr Dad und ihr Bruder bekamen so viel Post, dass sie gar nicht alles lasen.
Als die Stars nach Nashville gekommen waren, um gegen die Titans zu spielen, hatte sie beschlossen, ihn zu treffen. Sie wollte aus dem Haus schleichen und mit einem Taxi zum Stadion fahren. Dort würde sie feststellen, aus welcher Tür die Spieler nach dem Match kommen mussten, und auf ihn warten. Sie malte sich aus, wie sie seinen Namen rufen, wie er sie anschauen und wie sie sagen würde: Hi, ich bin Riley, deine Schwester. Da würde er vor lauter Freude übers ganze Gesicht strahlen und ihr vorschlagen, sie sollte bei ihm leben oder wenigstens die Schulferien mit ihm verbringen. Dann hätte sie nicht bei Tante Gayle und Trinity bleiben müssen.
Aber statt das Titans-Footballspiel zu sehen, hatte sie eine Halsentzündung bekommen und eine ganze Woche im Bett gelegen. Seither hatte sie mehrmals im Stars-Hauptquartier angerufen. Doch es war ihr nicht gelungen, der Telefonistin die Nummer ihres Bruders zu entlocken ganz egal, was sie erzählt hatte.
Nun erreichten sie den Stadtrand von Nashville, und Sal drehte das Radio so laut, dass Rileys Sitz vibrierte. Auch sie mochte laute Musik, aber nicht in dieser Nacht, wo sie so nervös war. Am Tag nach dem Begräbnis hatte sie ein Telefonat ihres Dads belauscht und dadurch von der Farm ihres Bruders erfahren. Sie suchte die kleine Stadt, deren Namen sie gehört hatte, auf der Landkarte. In East Tennessee. Als sie das herausfand, wurde ihr vor lauter Aufregung ganz schwindlig. Ihr Dad hatte nicht erwähnt, wo genau die Farm lag, nur »in der Nähe von Garrison«. Weil sie ihn nicht danach fragen konnte, nutzte sie ihre detektivischen Fähigkeiten.
Sie wusste, man wandte sich an Immobilienmakler, wenn man Häuser oder Farmen kaufen wollte. Denn der alte Freund ihrer Mutter war so ein Makler. Also suchte Riley im Internet die Maklerbüros in der Umgebung von Garrison.
Diese Firmen rief sie der Reihe nach an und behauptete, sie sei vierzehn und würde einen Schulaufsatz über Leute schreiben, die ihre Farmen verkaufen müssten. Die meisten Makler waren richtig nett und erzählten ihr alles Mögliche über die Farmen. Doch die standen immer noch zum Verkauf, deshalb wusste sie, dass die Farm ihres Bruders nicht dazugehörte.
Aber vor zwei Tagen hatte sie eine Sekretärin erreicht. Die Lady sprach von der Callaway Farm und erklärte, die habe ein berühmter Sportler gekauft, dessen Namen sie nicht nennen dürfe. Immerhin verriet sie, wo die Farm lag. Als Riley fragte, ob der berühmte Sportler gerade dort sei, wurde die Frau misstrauisch und beendete das Telefonat.
Daraus hatte Riley den Schluss gezogen, ihr Bruder würde sich zur Zeit auf der Farm befinden. Zumindest hoffte sie das. Wenn nicht, stand sie vor der Frage, was sie als Nächstes tun sollte.
Ausnahmsweise fuhr Sal gar nicht so übel, vielleicht lag es daran, dass sich die Autobahn schnurgerade dahinzog. »Hast du was zu essen?«, schrie er, um die Musik zu übertönen, und zeigte auf den Rucksack.
So ungern sie ihre Snacks auch mit ihm teilte, wollte sie
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