Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
verhältnismäßig bescheidenen Leben zufrieden ist. Aber ich bin dankbar für alles, wie es gekommen ist.
Das klopfe ich aber jetzt schnell ab, ich bin nämlich abergläubisch. Das Klopfen kann vielleicht verhindern, dass irgendwas passiert, was meine Zufriedenheit ändern könnte. Denn selbst im Heim kann ich mich nicht beklagen, ich finde es hier sehr angenehm. Ich habe ein schönes Zimmer, die meisten meiner Sachen sind bei mir, ich kann gut alleine sein, liege auf der Couch, lese viel und komme auch mit allen anderen hier gut zurecht. Und immer wenn jemandem etwas an mir nicht passt, kann ich sagen, ach ja, ich bin neunzig. Was kannst du noch von mir erwarten? Schön bequem.
Luise Zscherny, 90 Jahre
Wer weiß: Vielleicht werde ich als Wal wiedergeboren . Das würde zu mir passen
Beobachten und daraus lernen: Das ist es, was ich am Leben liebe. Ich liebe es zum Beispiel, Kindern und ihren Eltern auf dem Spielplatz zuzuschauen. Dabei ist das Verhalten der Mütter und Väter oft interessanter als das der Kinder. Man kann sofort sehen, was aus Liebe geschieht, und was aus übertriebener Fürsorge, manchmal sogar aus richtiger Angst. Es ist so schwer, das richtige Maß zu finden, seine Kinder aufs Leben loszulassen. Auf das Leben mit all seinen Widrigkeiten und Gefahren, aber auch mit all seinen Schönheiten. Für jeden ist ja auch etwas anderes gefährlich, etwas anderes schön. Vor allem ist für jeden etwas anderes richtig.
Schon als kleiner Junge wurde bei mir ADHS diagnostiziert. Die ersten Jahre war meine Familie etwas ratlos, wie sie damit umgehen soll. Erst sollte ich Tabletten bekommen, aber das fühlte sich nicht richtig an. Meine Eltern haben lange gebraucht, um zu verstehen, was für mich richtig ist und was ich brauche. Sie waren sich darüber auch nicht einig. Irgendwann haben sie mich von zu Hause weggeschickt und sich endlich getraut, mich auf mich selber loszulassen. Das war das einzig Wahre. Ich wurde auf eine Fischzucht-Farm ans pazifische Meer geschickt. Und plötzlich war ich kein Niemand mehr, der immer nur rumzappelt. Sondern ich war jemand, der gebraucht wird. Ja, Gebrauchtwerden, das ist wichtig. Teil von etwas zu sein. Ich musste mich darum kümmern, dass die Becken immer sauber waren, dass der Salzgehalt im Wasser stimmte, dass das Wasser bakterienfrei war. Wir haben Seebrassen gezüchtet. Und wenn die Großhändler kamen, dann durfte ich die Fische aus dem Becken holen und sie in Kisten auf deren große Lastwagen verladen. Eigentlich wäre ich gerne als Fisch auf die Welt gekommen. Im Wasser ist man frei und leicht. Es gibt keine Begrenzungen. Man darf sich durch die Meere zappeln. Niemand will einen ruhigstellen. Endlose Bewegung. Das ist mein Traum.
Warum sollen Menschen denn immer ruhiggestellt werden? Dann würde sich doch kaum noch etwas bewegen. Klar, in der Ruhe liegt die Kraft, sagen sie. Aber in der Bewegung, da liegt noch viel mehr Kraft. Und mich konzentrieren auf etwas, wofür mein Herz schlägt: Das kann ich auch. Glauben Sie wirklich, ich hätte sonst die Seebrassen über zehn Jahre hinweg aus dem Becken fischen können, wenn die Händler kamen? Also, es geht doch. Man muss nur das finden, was richtig für einen ist. Das sagt sich leichter, als es ist. Ich erachte es als Glück, dass meine Eltern das relativ früh für mich herausgefunden haben. Denn sonst wäre ich jetzt, da mein Leben offenbar bald zu Ende ist, noch gar nicht zufrieden gewesen.
Eigene Kinder wollte ich nie haben. Ich hatte nämlich immer Angst vor der Verantwortung. Angst davor, nicht die richtigen Entscheidungen für sie zu treffen. Und davor, sie nicht auf den für sie richtigen Weg zu schicken. Ich weiß, das ist feige. Aber es ist so. Deswegen beobachte ich lieber Kinder und ihre Eltern auf den Spielplätzen und lerne daraus, dass es vielleicht für sie richtig ist, aber nicht für mich.
Wer weiß: Vielleicht werde ich als Wal wiedergeboren. Das würde zu mir passen. Meine Eltern sind Buddhisten, ich stehe dieser Philosophie auch sehr nahe. Daher glaube ich an Wiedergeburt. Ich fühle, ich bin mit einem guten Karma auf diese Welt gekommen. Ich habe sehr viel Gutes in mir gespeichert und Leidbringendes aus meinem Leben entfernt. Ich habe keine Mühen, in den Tod zu gehen. Vielmehr schließe ich die Augen und rufe dem Meer zu: Nimm mich, hol mich. Ich gehöre zu dir.
Michael Steinfeld, 49 Jahre
verstorben im März 201*
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Mein Sohn arbeitet am Flughafenkiosk, er muss
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