Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
morgens um fünf aufstehen. Er verkauft viele internationale Zeitschriften an internationale Leute. Da kriegt er viel mit. Obwohl er kein Englisch kann. Aber das muss man auch nicht können, um viel mitzukriegen. Ich bin stolz auf ihn. Weil er sich keine eigene Wohnung leisten kann, wohnt er bei mir und räumt mir jeden Abend die Waschmaschine aus. Die ist im Schleudergang so laut, als hebe eine Rakete ab. Dann hängt er die nasse Wäsche auf einen Wäscheständer. Der steht jetzt auch nur im Wohnzimmer, weil ich Krebs habe und ich ihn, also den Ständer, und die Wäsche nicht mehr selber aufräumen kann. Das macht jetzt mein Sohn, aber der kommt ja immer erst abends von der Arbeit nach Hause.
Mein erster Sohn ist früh Vater geworden und macht jetzt eine Ausbildung zum Altenpfleger. Ein Bandscheibenvorfall war es, der meinen Krebs offengelegt hat. Wurde durch Zufall entdeckt. Nächste Woche habe ich meine sechste Chemo. Ich ziehe das jetzt durch. Was soll man auch machen. Hab das Leben immer genommen, wie es kam. Es hilft ja nichts rumzujammern. Diese vielen Leute, die mit jeder kleinen Schwierigkeit gleich ein Problem haben und sich aufregen über alles Mögliche, die verstehe ich nicht. Vielleicht bin ich nicht so ein gefühlvoller Mensch, weder in die eine noch in die andere Richtung, weswegen ich diese Leute nicht verstehe. Keine Ahnung. Meine Mutter hat mich in früher Kindheit vernachlässigt, aber darüber möchte ich nicht reden, dieses Kapitel ist geschlossen. Ich schließe gerne Kapitel in meinem Leben.
Mein Mann ist vor sechs Jahren schon gestorben, auch an Krebs.
Diese Perücke haben sie mir verkauft, mit extra Shampoo und so. Bei dieser Gelegenheit habe ich mir eine neue Haarfarbe ausgesucht und auch einen neuen Schnitt. Aber ich gehe nicht so gern raus, bin zu schwach. Wenn man es so sieht, war das mit der Perücke umsonst.
Vierzehn Jahre habe ich bei Penny gearbeitet. Bis ich krank wurde. Hat mir Spaß gemacht. Habe alles gemacht, Kasse, Lager, Wareneingang. Die Kasse war am interessantesten, weil man dort ja mit den Kunden in Kontakt kommt. Die haben sich über die Jahre auch verändert. Keine Zeit mehr, ein paar Worte zu wechseln. Eine Zeit lang kam ein Mann jeden Abend kurz vor Ladenschluss, kaufte immer dasselbe: Äpfel, eine Flasche Bier und eine Packung Windeln. Jeden Abend. Wozu braucht jemand täglich eine Packung Windeln? Er wechselte zwar immer die Kasse, aber unter den Kolleginnen hat sich das sofort herumgesprochen. Niemand von uns hat sich getraut, ihn nach den Windeln zu fragen. Das hätte ich gerne noch mal gewusst, bevor ich sterbe.
Klaudia Lobing, 53 Jahre, Krebs
verstorben im September 201*
Ich denke schon immer wieder über diese Zufall-o der-Schicksal-Frage nach
In meinem Leben ist viel durch Zufall geschehen. Das ging schon mit meiner Geburt los. Eigentlich sollte ich in Deutschland auf die Welt gekommen sein, aber weil meine Eltern nicht rechtzeitig über die Grenze kamen, gebar mich meine Mutter noch in Polen– im Auto. Meine Eltern sind Polen. Ob ich ein anderer Mensch geworden wäre, wäre ich gebürtiger Deutscher? Ich weiß es nicht. Sicher wäre ich aber ein anderer Mensch geworden, wenn ich nicht eines Tages meine große Schwester tot in ihrem Bett aufgefunden hätte. Damals war ich zehn Jahre alt. Heute bin ich dreiundsechzig. In den abgelaufenen dreiundfünfzig Jahren ist nicht ein Tag vergangen, an dem ich nicht daran gedacht habe. Wie sie da lag, völlig regungslos. Anna hatte mit unserer Schwester Luisa ein Zimmer geteilt, ich mit meinen beiden Brüdern. Unsere Wohnung war viel zu klein, als dass jedes Kind ein eigenes Zimmer hätte haben können. Weil Luisa mit der Schule ins Landschulheim gefahren war, habe ich diese eine Nacht in ihrem Bett geschlafen und war somit bei Anna. Mein Vater hatte das zwar verboten, aber ich habe es trotzdem gemacht. Ich mochte sie sehr, wir verstanden uns gut. Ja, und in dieser Nacht schlief Anna ein und wachte nie wieder auf. Ich habe sie angeschrien und durchgerüttelt, aber das Einzige, was sich bewegte, war das Bett. Bis heute weiß keiner, warum. Ich werde den Gedanken nicht los, dass sie nur gestorben ist, weil ich zufällig in dieser Nacht neben ihr geschlafen hatte. Oder war das kein Zufall, sondern Schicksal? Diese Frage stelle ich mir seit diesem Tag vor dreiundfünfzig Jahren, und ich habe bis jetzt keine Antwort gefunden.
Höchstens in der Bibel. Darin lese ich manchmal. Es gibt Stellen, die können durchaus Trost
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