Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
hat trotzdem geholfen, und diese Haltung meiner Eltern hat sich bei mir fortgesetzt. In der DDR habe ich bei der Volkssolidarität gearbeitet. Ich hatte bestimmte Straßenzüge, deren Bewohner ich bei sämtlichen Schwierigkeiten rund ums Arbeiten und Wohnen betreute. Auch heute ist mir der Gedanke an den anderen immanent. Ich habe zum Beispiel meinen Enkelkindern begreiflich gemacht, dass man ganz selbstverständlich zur Blutspende gehen muss. Ich finde, das ist man der Gesellschaft schuldig. Man sollte niemals nur sich selber sehen, sondern auch an alle anderen denken. Da ich wegen meiner Tuberkulose selbst einmal auf Blutspenden angewiesen war, habe ich gemerkt, wie wichtig der andere für einen sein kann.
Die momentane politische Situation beschäftigt mich sehr. Die Unfertigkeit und die Ungerechtigkeit, diese immer weiter auseinanderklaffende Schere. In meinem Alter hat man ja schon viel erlebt und weiß, dass das Ganze vielleicht irgendwann wieder umschlägt. Aber ändern kann ich nichts mehr und mich einsetzen für irgendetwas kann ich mich mit achtundachtzig Jahren auch nicht mehr. Das ist ein bisschen unbefriedigend, aber Gott, da muss man halt das Beste draus machen. Deswegen jetzt die Flügel hängen zu lassen, das wäre nicht meine Art.
Hannelore Otto, 88 Jahre
Es ist ein seichtes Leben, aber es gefällt mir
In meinem Leben frage ich mich oft, was mir wichtig ist und welches Leben ich führen möchte. Also, ich versuche nicht, irgendwelche Schablonen auszufüllen in der Art, sei ein Bildungsbürger oder sei ein erfolgreicher Unternehmer, das interessiert mich nicht. Ich probiere herauszukriegen, wer ich bin und was mir wirklich Spaß macht. Deshalb habe ich mir auch schon zweimal eine mehrjährige Auszeit genommen. Ich kündigte meinen Job, reiste monatelang um die Welt und ließ mich später in Thailand nieder. Als ich dort am Strand saß, war für mich klar, jetzt tue ich genau das, was mir Spaß macht. Es ist ein seichtes Leben, aber es gefällt mir. Viele Leute haben gesagt, ist das nicht öde, einfach nur am Strand abzuhängen, willst du nicht irgendwas Bleibendes schaffen, eine Firma gründen oder ein Buch schreiben? Das sind Leute, die große Pläne mit ihrem Leben haben. Ich frage mich dann immer, warum ist es ihnen so wichtig, ein großes Werk zu schaffen? Wenn sich nach meinem Tod keiner an mich erinnert, weil ich nichts Bleibendes hinterlassen habe, so what! Meine Ziele sind eigentlich nur, dass ich möglichst gut leben kann. Ich versuche, eine gewisse Unabhängigkeit zu haben, sowohl in finanzieller wie auch in geistiger Hinsicht. Ich möchte mich an relativ wenige Dinge binden. Deshalb war es ein großer Glücksmoment für mich, als ich in Thailand am Strand saß. Monatelang hatte ich mich mit dem Gedanken rumgetragen, mach ich’s, mach ich’s nicht. Gehe ich das Risiko ein, einfach zu kündigen. Man weiß ja nicht, ob es letztendlich gut wird und ob man je wieder den Weg reinfinden wird. Und wie ich es dann gemacht hatte, dachte ich, wow, ich habe meine Ängste überwunden, ich fühle mich einigermaßen frei.
Dann gingen mir aber noch andere Gedanken durch den Kopf. Wenn ich am Strand die Senioren beobachtete, die dort ihren Lebensabend verbringen, habe ich mich gefragt, warum sitze ich 49-Jähriger da und warum sitzen diese Alten dort. Was habe ich mit diesen Menschen gemeinsam außer nicht zu arbeiten? Ich dachte, vielleicht weiß mein Körper ja, dass ich nicht so alt werde, und will, dass ich mein Leben jetzt genieße. Dass ich nicht damit warte, bis die Rente kommt. Tatsächlich erhielt ich später die Nachricht, dass ich Nierenkrebs habe. Das war ein großer Schock für mich, weil mein Vater an Prostatakrebs gestorben ist. Während ich monatelang keine Arbeit gefunden hatte, bekam ich sofort, nachdem der Tumor rausoperiert worden war, eine passende Position. Es kann Zufall sein, aber vielleicht war ja mein Körper der Meinung, jetzt ist alles wieder einigermaßen in Ordnung, jetzt guck mal, dass wieder Kohle reinkommt. Trotzdem glaube ich, dass ich nicht so wahnsinnig alt werde. Der Gedanke, dass noch ein Krebs nachkommen könnte, macht mich noch stärker auf das Jetzt bezogen als vorher. Ich tue jetzt nur das, was mir wirklich Spaß macht. Auch wenn dies nur ein Dahinplätschern ist und ich nichts Großes dabei schaffe. Es kann nicht so verkehrt sein, weil es mir dabei gut geht. Es erstaunt mich nur, weil es ja eigentlich nichts Besonderes ist, da ist überhaupt nichts Irres
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