Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
aber es ist tatsächlich so. Die machen uns runter, weil sie selbst so viel Schmutz zu verbergen haben. Sie sind ja bis heute noch nicht fertig, ihre Nazizeit abzuarbeiten. Die sollen doch nur ruhig sein, da sind sich hier viele einig, die die Nazizeit mitmachen mussten. Wie ich meine Mutti schreien hörte, als die Nazis unseren jüdischen Nachbarn abholten. Oder wie ich als Hilfsschwester im Bunker ohne Licht und Wasser Geburten betreute. Der Krieg hat doch die ganze Menschheit anders geprägt und durcheinandergerührt.
Ich finde, die Menschen sollten wieder ein bisschen besonnener und bescheidener werden. Nicht immer noch mehr haben wollen. Immer nur Konsum, Konsum, Konsum. Das ist ja auch etwas, das die Umwelt mit zerstört. Albert Schweitzer hat schon vor Jahrzehnten gesagt, der Kapitalismus ist eine reißende Bestie, was ja stimmt, es will nur heute keiner mehr hören. Aber dann hat er etwas gesagt, was mir noch besser gefällt: Wenn jeder Mensch sich ein bisschen bescheiden könnte, dann würde es allen Menschen auf der Welt besser gehen. Das stimmt.
Wenn ich dann jetzt bald tot bin, möchte ich gerne mein Leben für einen liebenswerten jungen Menschen geben, der eventuell verunglückt ist im Bau oder dergleichen. Also einfach mein Leben beenden und es einem jungen Menschen geben. Denn mit mir ist ja nicht mehr groß was anzufangen. Was ist man heute als alter Mensch? Im Prinzip eine zahlende Nummer, mehr nicht.
Doris Feicht, 88 Jahre
Es hätte viel schlimmer kommen können
Das Wichtigste im Leben ist, dass man anderen Menschen vertraut und sich auf sie einlässt. Man darf nicht alleine laufen. Ich habe mich eingelassen auf meinen Mann und meine zwei Töchter, und jetzt muss ich mich auch in die Situation mit meinem Schlaganfall vollkommen einfügen wie ein Kind. In den Situationen, auf die ich mich eingelassen habe, habe ich eigentlich immer etwas gefunden, das mich zufrieden gemacht hat. Wenn man es sich richtig überlegt, könnte, glaube ich, jeder zufrieden sein mit irgendwas, und das muss im Vordergrund stehen.
Wenn mir damals jemand sagte, ach, das Traurige vergeht, die Zeit heilt alle Wunden, hätte ich denjenigen schlagen können. Heute weiß ich, es stimmt, das Traurige verflüchtigt sich, allerdings kommt es immer wieder. Beim Jahreswechsel, an Weihnachten, am Geburtstag oder manchmal in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann. Weil ich draußen die Vögel zwitschern höre. Das ist ein schönes Geräusch, aber ich höre es nicht gerne. Dann erinnere ich mich nämlich an meine Tochter, die immer gesagt hat, Mutti, mach mal das Fenster auf, ich will die Vögel hören. Ursel ist mit achtzehn Jahren an einer Blutkrankheit gestorben.
Ich habe meinen Mann sehr gerne gehabt und geliebt, aber seinen Tod zu verkraften ist mir nicht so schwergefallen wie den der Kleinen. Ich weiß nicht, das mit dem Kind ist im Herzen etwas anderes, das ist auch eine andere Liebe.
Schon als Ursel vier Jahre alt war, wussten mein Mann und ich, dass sie an einer unheilbaren Krankheit litt. Wir haben aber nie mit ihr darüber gesprochen, wie sagt man einem Kind, dass es nicht mehr gesund wird? Zum Glück hatte ich meinen Mann, der mir in dieser schweren Zeit viel Kraft gegeben hat, weil er zu mir gestanden hat. Die große Liebe war es nicht, so wie man das im Fernsehen sieht, das ist Quatsch, so etwas gibt es nicht. Aber wir haben Achtung voreinander gehabt. Deshalb hat er mir auch alles überlassen, was mit den Kindern, der Gesundheit und dem Haus zu tun hatte, darum habe ich mich alleine gekümmert.
Nach dem Tod von Ursel ist das Schwere noch weitergegangen. Meine andere Tochter kam in andere Umstände, große Freude. Dann war’s endlich so weit, und was hat sie? Ein Kind, das von Geburt an gelähmt ist. Aber ich muss sagen, auch da bin ich meinem Schicksal nicht böse, es hätte viel schlimmer kommen können. Mein Enkelsohn hätte einen Gehirnschaden haben können, aber so ist er bloß körperlich benachteiligt. Außerdem hat meine Tochter noch ein anderes, gesundes Kind geboren, das auch schon eine Tochter hat. Ich bin also Urgroßmutter.
Vor vier Jahren hatte ich einen Schlaganfall. Leider hat es nicht für den Tod gereicht, die erste Zeit war schlimm. Man wurde gewickelt, man wurde gefüttert, man war gar nicht mehr Mensch, sondern bloß noch ein Stück lebendes Objekt. Bei uns Alten gibt es doch viel Traurigkeit. Wir haben alle mal etwas dargestellt im Leben, wir haben alle mal etwas geleistet, und was sind wir
Weitere Kostenlose Bücher