Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
sterben muss, wäre es das Schönste, wenn ich einfach so einschlafen würde. So, wie ich unzählige Tiere einfach für immer habe einschlafen lassen . A ber dieser Tod ist den wenigsten Menschen vorbehalten. Nach dem Tod kommt, glaube ich, nichts mehr. Das ist vielleicht auch besser so. Denn wenn ich in den Hundehimmel käme, würden sich vielleicht die Hunde, die ich eingeschläfert habe, an mir rächen. Und dann müsste ich die Flucht ergreifen. Das wäre schade, nach einem normalen Leben mit Höhen und Tiefen.
Gabriele Neudorf, 81 Jahre
Wie gerne hätte ich jetzt noch mehr Zeit gehabt, dich richtig kennenzulernen
Warum wird eigentlich alles immer komplizierter und ernster, je älter man wird? Muss das zwangsläufig so sein? Wo auf dem Lebensweg verliert der Mensch seine Leichtigkeit, seine Lausbubenhaftigkeit, seine Fähigkeit zum Dasein im Hier und Jetzt? Als Kind hat man das doch voll drauf. Man ist sich nur nicht bewusst darüber.
Bis ich hier ins Krankenhaus kam, war ich Bankangestellter bei der JP Morgan Chase Bank in Kalifornien. Verantwortlich für über zwanzig Mitarbeiter im Privatkundenbereich. Da hat sich viel geändert in den letzten zehn Jahren, heute braucht keiner mehr das Gespräch hinter dem Schalter. Trotzdem hat mir der Beruf immer Spaß gemacht und bot ständig neue Herausforderungen. Da mich bisher auch keiner von meinen vielen wechselnden Chefs rausgeschmissen hat, nehme ich an, dass ich einen guten Job gemacht habe.
Zu Hause war das nicht so. Da habe ich keinen guten Job gemacht. Meine Frau hat es alles kommen sehen. Wir hatten schon früh geheiratet, und es war von Anfang an klar, dass wir Kinder haben werden, um die sie sich kümmert. Mit ihrer Mutter- und Hausfrauenrolle hatte sie auch nie ein Problem. Diese Unterordnung hat ihr nie das Gefühl gegeben, minderwertig zu sein.
Gott hat uns drei Söhne geschenkt. Der erste, Adam, starb allerdings, als er fünf Jahre alt war– an einer seltenen Herzkrankheit. Ich glaube, unsere Ehe ist eine der ganz wenigen, die so etwas überlebt hat. Wir sind sofort in Therapie gegangen, das hat geholfen. Jeder von uns hatte ein paar kleine Affären in dieser schweren Zeit. Das hat auch geholfen, denn uns beiden war immer klar, dass wir zusammenbleiben wollen. In so einer Situation aber mal mit jemand anderes zu schlafen, das hatte etwas Entlastendes.
Danach haben wir noch Steven und Tom bekommen, und alles war an der Oberfläche gut. Bis Tom mit einundzwanzig Jahren depressiv wurde. Eines Morgens sah er plötzlich keinen Grund mehr aufzustehen. Dabei war er an einer Elite-Universität, und wir hatten allen Grund, stolz auf ihn zu sein. Er musste in eine Klinik eingeliefert werden, so schlimm war es. Und dann kam auch raus, was los war mit ihm: Er litt unendlich darunter, dass ich immer seinen älteren Bruder Steven bevorzugt habe. Sie müssen wissen: Das stimmt. Ich habe es nur nie bemerkt. Susan hat es mir immer wieder gesagt, also hätte ich es sehr wohl bemerken können. Ich wollte aber nicht. Sie sagte immer: Merkst du nicht, dass du zu Stevens Baseball-Spielen gehst, aber nicht zu denen von Tom? Dass du mit viel Geduld und Ehrgeiz Steven Sport und Spiel beibringst– aber Tom nicht? Dass du Steven mit in die Bank nimmst, ihm erklärst, wie man mit Geld umgeht– aber Tom nicht? Dass du Steven drei Mal im Jahr im College besuchst, aber Tom, wenn überhaupt, nur einmal?
Wenn ich ehrlich bin, lag es daran, dass ich in Steven meinen Ersatzsohn für Adam gesehen habe. Adam war vom Typ her nämlich genauso wie er. Extrovertiert, abenteuerlustig, smart. Ich gab mich der Vorstellung hin, dass Adam in Steven weiterleben würde. Ich habe meinen verstorbenen Sohn also nie loslassen können. Obwohl mir mein Therapeut immer wieder gesagt hat, wie wichtig das ist. Nicht nur für meinen Frieden, sondern auch für Steven. Dem habe ich damit eine große Hypothek aufgelastet. Und Tom habe ich als den wunderbaren jungen Mann, der er inzwischen geworden ist, nie sehen können. Ich weiß gar nicht so richtig, wer er ist, was er denkt und fühlt.
@ Tom: Wie gerne hätte ich jetzt noch mehr Zeit gehabt, dich richtig kennenzulernen. Aber jetzt ist es zu spät, ich bin sterbenskrank. Trotzdem bin ich sehr froh, dass ich das wenigstens alles noch verstanden habe vor meinem Tod. Und dass du weißt, dass ich weiß, welchen großen Fehler ich gemacht habe. Bitte glaube mir: Ich habe es nicht absichtlich gemacht. Ich liebe dich genauso, wie ich Steven liebe. Wenn du
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