Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
Jedenfalls stand ich elf Jahre lang am Grab meines Vaters und fragte ihn Woche für Woche, warum er mir zu Lebzeiten nie gesagt hat, dass er stolz auf mich gewesen ist. Diese Frage beschäftigt mich so sehr, dass ich sie am Grab laut ausgesprochen habe. Dreimal hintereinander. Das hatte therapeutische Wirkung. Deswegen war es mir auch wichtig, dass ich zumindest im Umkreis von mehreren Grabreihen alleine mit ihm bin. Danach ging es mir etwas besser. Auch wenn er nicht mehr antworten kann, so tat es mir doch gut, seinen Grabstein laut anzusprechen.
Dass er stolz auf mich gewesen ist, das weiß ich nur von meiner Mutter. Die hat es mir aber auch erst gesagt, nachdem er tot war. Ich war Oberstudienrat am städtischen Gymnasium, meine Unterrichtsfächer waren Mathematik und Physik. Mein Vater war Grundschullehrer, auch für Mathematik. Die Neigung zu diesem Beruf habe ich also ganz klar von ihm geerbt. Aber ich bin weitergekommen als er. Und ich vermute, dass er das nicht gut ertragen konnte, dass sein Sohn eine höhere Position als er im selben Beruf erreicht hat. Vielleicht war er sogar ein wenig eifersüchtig auf mich. Meiner Mutter hat er ja angeblich immer mal wieder gesagt, dass er stolz sei auf mich, aber eigentlich glaube ich das gar nicht so richtig. Denn er hat sich immer genau gegenteilig verhalten. In Gedanken gehe ich all die Jahre durch, in denen wir uns gesehen haben. Jetzt, wo ich selber im Sterben liege, habe ich ja auch viel Zeit dazu. Und ich merke, wie sehr es mich immer noch beschäftigt.
Er hat mir nicht zum Lehrerexamen gratuliert, hat nie an einer Schulfeier teilgenommen, selbst wenn es nur das Sommerfest war. Er hat nie etwas Anerkennendes gesagt, auch nichts Kritisches, er hat gar nichts gesagt. Nichts über die Wahl meiner Frau, nichts über Lehrmethoden im Unterricht, nichts über mathematische Formeln oder über Schulpolitik, nichts über die Verdienstmöglichkeiten im öffentlichen Sektor. Das hat mich manchmal zum Verzweifeln gebracht. Wie kann man ohne jede Haltung zu irgendetwas durchs Leben gehen? Vielleicht hatte er aber doch eine Meinung und hat sie nur mir gegenüber nicht kundgetan. Ich habe dann auch viele seiner Freunde gefragt, alle haben immer gesagt, ach, der Heinz, von dem wissen wir auch nicht, was er denkt. Der zieht einfach seine Sache durch.
Wie sehr habe ich mir die Anerkennung meines Vaters gewünscht. Im Rückblick wird mir klar, dass dieser unerfüllte Wunsch für mich das Wichtigste war. Es konnte mir auch kein anderer helfen, das wird mir auch erst jetzt klar. Es gibt keinen Ersatz für Vaterstolz. Zwar war ich, glaube ich, ziemlich beliebt bei meinen Schülern. Und auch von meiner Frau habe ich mich fast immer geliebt gefühlt. Aber bei meinem Vater, da wusste ich nie, woran ich bin. Jetzt bereue ich, dass ich mich nie getraut habe, ihn darauf anzusprechen. Ich hätte ihn ja fragen können: Papa, findest du es eigentlich gut, dass ich auch Lehrer geworden bin? Oder ganz direkt: Bist du eigentlich stolz auf deinen Sohn? Aber dazu hatte ich nie den Mut. Aus Angst davor, in dieser für mich unendlich wichtigen Frage keine Antwort zu bekommen. Wie bei allen anderen Fragen auch. Deswegen ist es für mich so gut gewesen, das nachzuholen und ihn das auf dem Friedhof zu fragen. Ein Grabstein antwortet nicht, da musste ich also auch nie Angst vor einer schmerzenden Antwort haben.
Und dann gab es auch die Jahre, in denen ich mir vorgemacht habe, dass mir der Respekt und der Stolz meines Vaters nicht wichtig seien. In Wahrheit war es mir aber wichtig. Wenigstens habe ich das geklärt, bevor ich sterbe. Wir haben keine Kinder, denen ich hätte sagen können, dass ich stolz auf sie bin. Wenn wir aber welche gehabt hätten, dann hätte ich ihnen das regelmäßig gesagt. Jeden Freitagmorgen.
Jürgen Maringer, 62 Jahre, Leukämie
verstorben im Dezember 201*
Man sollte nicht nachfragen, warum, so ndern besser sag en, das ist Schicksal
Bei mir im Leben gab es keine Hochs, aber auch keine Tiefs. Also umarmen wollte ich die Welt noch nie, aber da war auch nichts Supertrauriges. Meine Geschwister heißen eher Pech und Unglück. Ich war fünfundvierzig Jahre berufstätig und zog nach der Pensionierung in eine schöne, kleine Wohnung. Extra mit Zentralheizung, damit ich keine Kohlen mehr schleppen musste. Ich dachte mir, jetzt machst du dir einen richtig schönen Lebensabend, du bist gesund und hast gut gespart. Wegen einer Routineuntersuchung ging ich zum Arzt, und der sagte, da
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