Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
meinen Brustkorb und überprüfte meine Atmung. Mir ging es gut. Außer den normal-schlimmen Stichen war nichts festzustellen. Noch etwas wacklig auf den Beinen, aber gut gelaunt, kletterte ich vom Hochbett, schlurfte durch den Flur und winkte Papa, der sich in der Küche einen Kaffee eingoss. Mama lief aufgeregt um uns herum. Sie telefonierte so laut mit Wiebke, ihrer besten Freundin, dass Papa und ich zeitgleich mit den Augen rollten. Das war lustig, weil wir nichts sagen mussten, um uns zu verstehen. Mama hatte vor der Party noch viel vor: Reeperbahn, Friseur, Haare färben, neues Outfit aussuchen. Zum Glück hatte ich alles schon erledigt, denn am schönsten Tag meines Lebens wollte ich keinen Stress mehr haben. Da sollte alles perfekt sein. Ich machte Pipi, wusch mir die Hände und klopfte an Lars’ Tür. Er antwortete nicht, also ging ich rein.
»Schläfst du?«, fragte ich vorsichtig.
»Wie denn, bei dem Lärm, den deine Mutter veranstaltet!«
Lars drehte sich zur Seite und grinste mich an. Ich grinste zurück, weil wir nach der getrennten Nacht wieder zusammen waren und ich mir in dem Moment nichts Schöneres vorstellen konnte.
»Aufgeregt?«
»Nein«, sagte ich. »Darf ich kurz kuscheln kommen?«
Lars rutschte zur Seite an die Wand, und ich legte mich neben ihn.
»Machst du Nini noch mal an?«
»Klar«, sagte Lars. »Video oder Lied?«
»Lied«, sagte ich und schaute an die Decke.
Lars beugte sich über mich, um an seinen Laptop zu gelangen und nur sechs oder sieben oder acht Wimpernschläge später begann Nini wieder für uns zu singen: » Du warst auf einmal da, fast wie ein Sonnenstrahl, immer da bei mir, immer da …«
Während ich neben Lars lag und zuhörte, fiel mir auf, dass er wirklich immer da war bei mir. Woher wusste Nini das so genau? Seit unserem ersten Treffen verging fast kein einziger Tag, an dem wir nicht mindestens einmal unsere Stimmen hörten – nur um zu überprüfen, ob es dem anderen auch gut ging. An den schlechten Tagen, an denen ich zu schwach zum Reden war, dachte ich einfach ganz viel an ihn und er an mich. Und wir schrieben uns SMS. Das zählt nämlich auch. Zu wissen, dass es jemanden gibt, der seine Zeit mit dir verbringt, der an dich denkt und dich lieb hat, auch wenn er in einer anderen Stadt wohnt, ist das kostbarste Geschenk, das man auf der Welt bekommen kann. Besser als jeden Tag Geburtstag zu haben. Die Zeit, die man zusammen erlebt, kommt ja nicht wieder. Sie ist für immer weg, also sollte man dankbar sein, wenn jemand sie mit einem teilt. Und wenn du diesen Jemand auch noch tief im Herzen lieb hast, dann bist du ein richtiger Glückspilz. Braune Champignons flogen durch das Bild, und ich schüttelte mich schnell, damit ich wieder bei meinen alten Gedanken landete. Ich mag nämlich keine Pilze. Die sind eklig und schmecken wabbelig. Ich fand nicht mehr zu meinen alten Gedanken zurück und weil ich etwas ganz schnell wissen wollte, tippte ich Lars auf die Schulter und fragte: »Bleibst du mein großer Bruder?«
»Wie meinst du das?
»Ich meine, also, ich möchte gerne wissen, ähhh, wegen, Ding.«
»Ganz langsam, Daniel. Ausatmen. Einatmen. Und von vorne.«
»Ich bin doch jetzt sechzehn«, sagte ich. »Und heute ist meine Geburtstagsfeier. Und ich wollte gerne wissen, ob du morgen immer noch mein großer Bruder bist?«
»Aber Daniel, das weißt du doch«, sagte Lars.
»Bist du’s?«
»Natürlich.«
»Gut.«
»Kannst du dich nicht mehr erinnern? Du hast mich das schon einmal gefragt. Da kannten wir uns erst eine Woche oder so. Und ich habe zu dir gesagt …«
»Ich glaube, ich weiß es wieder«, unterbrach ich ihn. »Du hast gesagt: Brüder für immer. «
»Yessur!«
»Okay, dann kann ich ja jetzt beruhigt duschen gehen, du Lusche.«
»Pass bloß auf, du Frechdachs«, lachte Lars und zog mir eins mit dem Kopfkissen über. Wir kämpften, bis meine Lippen blau wurden, ließen uns wieder aufs Bett fallen, hörten noch ein bisschen Nini zu und quatschten über Mädchen. Mein Herz klopfte.
»Meins auch«, zwinkerte Lars mir zu.
Ich überlegte kurz, ob ich nachfragen sollte, ließ es aber bleiben. Manche Dinge müssen nicht laut ausgesprochen werden, um sie zu verstehen. Ich lächelte zurück, stand auf und ging duschen.
Bis zum Nachmittag sah ich fern, doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab, und ich stellte mir vor, später auf der Party ein oder zwei sexy Mädchen abzuschleppen. Ich hatte zwar keine Ahnung, wen Lars eingeladen hatte,
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