Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
»Ist doch logisch: Wären wir glücklich, müssten wir ja nicht nach dem Glück suchen.«
»Hmm«, grübelte ich vor mich hin und dachte an meine tote Zwillingsschwester. Wir waren damals zusammen in Mamas Bauch, aber kurz nach ihrer Geburt ist sie schon wieder zurück in den Himmel geflogen. Ich wurde nicht traurig deswegen, weil ich sie ja lieb habe und bald wieder sehen würde. Es war nur so, dass ich plötzlich wieder an den Tod dachte, und das gefiel mir nicht. Vielleicht wurde mir deshalb so kalt. Ich drehte die Sitzheizung auf und fragte Lars, ob wir nicht einfach durch die Gegend fahren könnten, ohne Ziel, einfach nur unterwegs sein. Lars nickte, und ich fragte ihn, ob er auch manchmal über den Tod nachdachte. Er überlegte kurz, dann sagte er: »Weißt du, der Moment, in dem dir wirklich bewusst wird, dass du eines Tages sterben wirst, verändert alles. Wir wissen alle, dass unser Leben nicht endlich ist und dass der Tod schon auf uns wartet, aber die wenigsten denken wirklich darüber nach. Sie verdrängen ihn, schieben ihn weg, als gäbe es ihn gar nicht.«
»Ich weiß, dass es ihn gibt«, sagte ich schnell.
»Ich weiß das auch«, antwortete Lars und nahm meine Hand. »Es gab mal eine Zeit, und das ist noch gar nicht lange her, da war ich ganz traurig und fragte mich immer wieder: Warum noch vierzig oder fünfzig Jahre diesen ganzen sinnlosen Mist hier auf der Erde ertragen, wenn du morgen, oder noch besser: jetzt sofort, alles beenden könntest? Warum weitermachen? Ich stellte mir diese Frage jeden Tag. Der einzige Grund, warum ich im Sommer nicht raus aufs offene Meer geschwommen bin, war der Gedanke an meine Eltern und den Kummer und die Schmerzen, die ich ihnen bereitet hätte. Das hätte ich nicht übers Herz gebracht.«
Ich wusste genau, wovon Lars sprach und sagte: »Ich weiß genau, was du meinst. Ich denke auch oft an Mama, wie sie an meinem Grab steht und traurig ist. Kann man diese Gedanken denn abstellen? Wie hast du es geschafft?«
»Meine Situation ist ein bisschen anders als deine, mein Kleiner. Ich hatte so eine Art Todessehnsucht, weil ich mit meinem Leben unglücklich war und nach einem Sinn suchte. Bei mir spielte sich alles nur im Kopf ab, bei dir ist aber alles echt, verstehst du? Bei mir war es nur Einbildung, wie in einem schlimmen Albtraum.«
»Was war denn im Sommer?«, fragte ich neugierig.
»Ach, das willst du gar nicht wissen«, sagte Lars und fuhr auf die Autobahn. Er gab jetzt richtig Gas. Wir fuhren bestimmt 300 km/h oder noch schneller. Ich bekam Angst und schrie. Lars bremste ab und fuhr an der nächsten Ausfahrt wieder raus. Ich atmete wieder normal und sagte: »Bitte erzähl’s mir.«
»Das würdest du nicht verstehen.«
»Keine Geheimnisse, weißt du nicht mehr?«
»Also schön«, sagte Lars. »Ich war ja den Sommer über in Rio, das habe ich dir schon erzählt. Das war eine Zeit, in der ich mich sehr verloren fühlte. Ich war zwar selten alleine, aber immer einsam. Es gab niemanden, mit dem ich meine Träume teilen konnte, verstehst du?«
Ich nickte.
»Mein Leben in Berlin hatte sich festgefahren. Ich hatte alles, mir fehlte es an nichts und wahrscheinlich war genau das mein großes Problem. Ich suchte nach dem Sinn des Lebens, nach Action, Abenteuer und dem Glück. Ja, ich wollte endlich wieder glücklich sein. Und irgendwie hoffte ich, das alles in Rio zu finden. Also habe ich mir ein Flugticket gekauft und bin einfach losgeflogen, ohne Plan, von heute auf morgen. Dann wurde es verrückt. Ich spreche ja kein Portugiesisch, kannte dort niemanden und trieb mich an Orten herum, an die ein Tourist lieber nicht gehen sollte.«
»Warum nicht?«
»Weil man dort leicht umgebracht werden kann.«
»Und warum bist du dahin?«
»Vielleicht weil ich den Tod herausfordern wollte. Ich habe ziemlich leichtfertig mit meinem Leben gespielt.«
»Was ist denn passiert?«, fragte ich, weil Lars ja immer noch um den heißen Brei herumredete.
»Ach, Daniel. Willst du das wirklich wissen?«
»Ja, bitte.«
»Okay, ich war in vielen Favelas unterwegs, in denen das Gesetz keine Rolle spielt. Dort haben Gangsterbanden das Sagen und stellen ihre eigenen Regeln auf. Weißt du, was eine Favela ist?«
»Ja, weiß ich«, sagte ich stolz. »Die kenne ich noch aus Südafrika. Nur heißen die bei uns Townships.«
»Ja, genau. Ich habe da schlimme Dinge erlebt, zum Beispiel wurde nur ein paar Meter neben mir ein Mann erschossen.«
»Hattest du keine Angst?«
»Nein.«
»Ich
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