Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
die finanzielle Entsprechung der Gewalt, die dem Unterleib seiner Frau angetan wurde; und nicht zuletzt die Chemotherapie, die sich pro Stück auf 40 000 Dollar belief. Shep, der einst beim Kauf einer Tube Senf jeden Cent umgedreht hatte, wurde dieser Tage in Gelddingen nachlässig, ja fast gleichgültig. Er phantasierte davon, am nächsten Tag auf die Straße zu gehen und dem erstbesten wildfremden Menschen ein Bündel Geld in die Hand zu drücken. Nimm’s, nimm alles. Erspar mir die Qual, mich schrittweise davon trennen zu müssen . Eigentlich war es Folter, Tod durch tausend Messerstiche, und lieber wäre ihm ein Dolchstoß in den Bauch gewesen – oder ein weltweiter Wirtschaftskollaps, der seine Dollarscheine zu kleinen Papierrechtecken reduzierte, mit denen man sich den Arsch abwischen konnte.
Er hatte die Tür nur angelehnt, um nach Glynis hören zu können, und tatsächlich pirschte sie schon wieder durchs Haus. Es war nach ein Uhr morgens, doch die Schlaflosigkeit, von der sie schon im Krankenhaus geplagt worden war, gehörte unweigerlich zu den Nebeneffekten von Alimta (oder wie Glynis sagte, zu den Spezialeffekten ). Was extrem ungerecht war, wenn man bedachte, dass Müdigkeit einen weiteren Spezialeffekt des Medikaments darstellte. Gleich würde Shep sich zu ihr gesellen, gleich. Erst musste er sich zusammenreißen und die furchtbare Erkenntnis im Zaum halten, dass er, obwohl es kaum begonnen hatte, schon jetzt nur darauf wartete, dass das alles endlich ausgestanden sein würde.
Auf einem Regalbrett über seinem Schreibtisch stand eine Reihe von Notizheften, die er sich eigens von einem Schreibwarenhändler aus London kommen ließ – ein seltener Luxus. Die Heftrücken waren ordentlich in Filzstift beschriftet: Goa, Laos, Puerto Escondido, Marokko … Jedes Heft war voll mit handgeschriebenen Notizen: Preise für Grundnahrungsmittel – Brot, Butter, Milch. Durchschnittspreise für Häuser mit zwei bis drei Schlafzimmern. Gesetze für den Immobilienkauf als Ausländer und in restriktiveren Ländern die Empfänglichkeit der Beamten für Bestechung. Zuverlässigkeit der Telefondienste, Stromversorgung und Post. Bei den Auskundschaftungen der letzten zehn Jahre auch Informationen zur Internetversorgung. Zielorte und Wohngegenden. Kriminalitätsraten. Wetter. Besonders akribisch in den älteren Notizbüchern: detaillierte Checklisten über die Verfügbarkeit von Kunstschmiedematerialien – Silber, Lötzinn, Polierrot, Lötpaste –, und wie weit sie hätten reisen müssen, um die Acetylenflasche für den Schweißbrenner aufzufüllen, den Glynis verwendete. Da ihre Produktivität zu Hause immer mehr abgenommen hatte, waren letztere Notizen immer weniger gründlich geworden; sie dienten allein dem immer weniger glaubwürdigen Mythos, dass seine Frau im Ausland, wo die Materialien erst eingeführt und von korrupten Zollbeamten losgeeist werden mussten, ihr Handwerk ernster nehmen würde als hier, wo sie kaum je in ihrem Dachatelier gewesen war, obwohl sie alles Nötige im Jewelry District in Midtown Manhatten direkt vor der Nase hatte.
Es war seine Handschrift: die ordentliche runde Schrift eines fleißigen Schülers, bei der sich die Schweife der Gs und Ys immer wieder pflichtschuldig auf die Schreiblinie zurückzogen und die As und Os gewissenhaft geschlossen wurden. Seine Schreibschrift hatte noch immer ihre schülerhafte Gefallsucht, die nervöse Entschlossenheit, alles korrekt von der Tafel abzuschreiben. Zusätzlich zu den logistischen Notizen waren die Seiten mit Fotos zugekleistert: Bungalows in Kapstadt, die einst zu bescheidenen Preisen zu haben gewesen waren, Glynis, posierend vor einem Haufen leuchtender Früchte auf einem Freiluftmarkt in Vietnam. Karten von Pensionen, Speisekarten von Restaurants. Die Anschriften neu gewonnener Freunde, meist aus den englischsprachigen Kreisen der britischen und amerikanischen Exilanten, deren Gegenwart, wie sie sich von Anfang an geeinigt hatten, unabdingbar wäre. Er und Glynis waren, so das Prinzip, abenteuerlustig, aber realistisch; ohne die Gesellschaft Gleichgesinnter ginge es nicht. Doch egal, wie freundschaftlich das Verhältnis zu den neuen Bekannten gewesen war, sie hatten nach ihrer Abreise kaum mehr Kontakt zu den Ortsansässigen gehabt. Hatte Glynis erst mal das Land zu den Akten gelegt und so die Übung zur reinen Reminiszenz verdammt, hatte er das Heft nie wieder aufgeklappt. Die Hefte links im Regal waren schon ganz verstaubt.
Da sie
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