Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
Vom Netzwerk:
Hand dem Griff des hochgewachsenen Doktors ebenbürtig. Es mochte sein, dass sie ihr Talent nie genutzt hatte, doch selbst das sporadische Feilen, Sägen und Polieren hatten einen eisernen Handgriff erzeugt, wie ihn Shep sonst noch bei keiner Frau erlebt hatte.
    Sie setzten sich vor den Schreibtisch. Shep war froh über den Stuhl. Er fühlte sich wacklig auf den Beinen. Sternchen wirbelten durch sein Blickfeld, als wäre das Büro voller Fliegen. Er betete, dass Goldman nicht zu den Leuten gehörte, die durchwachsene Resultate aufzurunden und in glühende Worte zu packen pflegten.
    Der Dokor ließ sich auf seinen Platz fallen, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und kippelte in seinem beweglichen Sessel nach hinten, wobei er einen Ziegenlederschuh auf den Schreibtischrand stützte. Sein weißer Kittel stand offen, sein Hemd war zerknittert, sein Haar zerzaust; er war ein bisschen schlampig. Doch als Spezialist, dessen Patienten aus Neuseeland und Korea eingeflogen kamen, konnte er es sich leisten, ungepflegt zu wirken. »So, liebe Kinder, ich habe umwerfende Neuigkeiten!«
    Shep ließ vor Erleichterung die Schultern sinken. Der Internist war Wissenschaftler, kein Autoverkäufer, und naturgemäß konnte er bei einer Klapperkiste nicht einfach den Kilometerzähler zurückdrehen.
    »Das Böse weicht zurück vor der mächtigen Hand des Guten«, fuhr Goldman freudig fort. »Ich weiß, Alimta ist kein Spaß, Mrs Knacker, und Sie waren eine wahre Heldin!« (Der beliebte Begriff wahre Heldin war offenbar die medizinische Formel für reißt den Arzt nicht mitten in der Nacht aus dem Schlaf, wenn sie unter Nebenwirkungen leidet, über die sie das Klinikpersonal im Vorfeld aufgeklärt hat. ) »Aber es hat sich gelohnt. Ich will ehrlich sein: Diese eine biphasische Stelle erweist sich als hartnäckig. Aber bisher ist sie auch nicht größer geworden, das heißt, wir haben das Wachstum stoppen können. Die anderen beiden Stellen sind deutlich kleiner geworden. Wir konnten auch keine Metastasierung entdecken.«
    Shep legte Glynis die Hand in den Nacken und küsste ihr segnend die Stirn. Sie drückten einander die Hände und überboten sich gegenseitig mit Begeisterungsrufen: »Das ist ja wunderbar! Das ist großartig! Wir sind ja so dankbar!«
    Goldman schob eine CD in seinen Computer und führte ihnen diverse Querschnitte von Glynis’ Organen vor, die an die Tranchen einer feinen Wildpastete in einem Nobelrestaurant erinnerten. Shep machte sich Vorwürfe, dass er jemals Böses über Philip Goldman gedacht hatte. Vielleicht sah der Kerl ja wirklich gut aus. Shep war keine Frau, wie hätte er das also beurteilen können? Und wenn Glynis an ihren Doktor »glaubte«, war ihr Glaube am richtigen Platz.
    Mit seinen Zweifeln, seinem religiösen Skeptizismus kam sich Shep nun seicht und zynisch vor, wie ein Verräter. Er fragte sich, ob er die ganze Zeit vielleicht auf dem Holzweg gewesen war. Er hatte keinen Sinn für diese neumodische »negative Energie«, die man angeblich ausstrahlte – zumindest glaubte er, keinen Sinn dafür zu haben. Allerdings hatte er ganz bestimmt auch keinen positiven atmosphärische Beitrag zu ihrer Genesung geleistet (oder durfte man es wagen, schon jetzt von »Heilung« zu sprechen?). Da der Internist mehr Erlösung versprach als Gabe Knackers Presbyterianismus oder Debs beknackte Wiedergeborenensekte in Tuscon, war es an der Zeit, sich bekehren zu lassen und ein treues, zahlungskräftiges Mitglied der Philip-Goldman-Kirche zu werden.
    Seinem neuen Glauben entsprechend blickte Shep den Doktor mit frischer Anerkennung an. Dessen selbstsichere Gesten zeugten davon, dass dieser Mann es gewohnt war, vor einem hingerissenen Fachpublikum Vorträge zu halten. Artikel in The Lancet zu publizieren und die Forschungsergebnisse geringerer Autoren zur Prüfung zugesandt zu bekommen. Von Sterbenden womöglich unter Tränen bekniet zu werden, ihren Fall zu übernehmen. Dennoch wirkte er nicht wichtigtuerisch; das heißt, er machte nicht etwa deshalb so viel Wind, weil er eine betrügerische Seite seiner Person überspielen musste. Nein, Goldman wirkte einfach an sich wichtig.
    Der Doktor wies auf den Kontrast zwischen Glynis’ vorhergehender und neuester Computertomografie hin. Für das ungeschulte Auge wirkten die Unterschiede deprimierend gering; es kostete Shep einige Mühe, umzukehren, seinen bisherigen Agnostizismus abzulegen und sich auf dieses Spiel einzulassen. Fortwährend verwendete Goldman die

Weitere Kostenlose Bücher