Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
was sie hätten reden können, würde sich auf die schrumpfenden oder sich ausdehnenden Schatten auf ihren Dias auswirken. Sie konnten zu diesem Urteil nichts beitragen. Das war eines der Probleme mit dem Vergleich mit schulischen Prüfungsergebnissen, die Aufschluss darüber gaben, ob man gut oder schlecht abgeschnitten hatte; deren Resultat hatte man selbst bestimmt. Sheps Vater mochte seinen Sohn als fremdartigen Philister betrachtet haben, doch immerhin hatte er seinem Erstgeborenen das Bedürfnis mitgeben können, ein guter Mensch zu sein, Gutes zu tun und gut in etwas zu sein. Doch ob es Glynis gutginge, hing nicht davon ab, ob er oder sie gut in etwas gewesen waren. Da Shep selbst bei bescheidenen Unterfangen wie dem Einbau eines neuen Badezimmerwaschtischs immer höchste Maßstäbe anlegte, war er bestürzt angesichts einer so lebenswichtigen Angelegenheit, die nun einzig und allein in der Hand des Schicksals lag. Seine Angst ähnelte also am ehesten dem Gefühl, das Jackson haben musste, wenn er eine beträchtliche Summe auf einen Windhund gesetzt hatte und der Startschuss fiel.
Um auf andere Gedanken zu kommen, dachte Shep über Dr. Goldman nach. Der Internist war energisch und aggressiv, ein auf grobschlächtige Weise gut aussehender Mann, der mit seinen eins neunzig wirklich groß war . Er war nicht fett, aber eine füllige Bauchgegend entlarvte ihn als Lebemann. Gewiss war er einem Teller Schweinerippchen oder einem doppelten Scotch nicht abgeneigt und hielt sich offenbar nicht an seinen eigenen Rat, wie etwa Dr. Knox – der fit, schlank und fünfzehn Jahre jünger war und nach konventionellen Maßstäben weitaus besser aussah. Warum also war Philip Goldman der attraktivere Mann? Sein breites Gesicht war flach gedrückt, und seine kleinen Augen standen zu dicht beieinander. Und doch bewegte er sich mit Elan und Selbstüberzeugung, durchmaß die Flure mit ähnlich hungrigen Schritten, mit denen er zweifellos seine Mahlzeiten verschlang. Er bewegte sich wie ein Mann, der zum Sterben gut aussah, und erweckte damit die Illusion, tatsächlich einer zu sein. Sein Reiz war kinetisch und würde sich niemals auf eine Fotografie übertragen lassen. Eine verliebte Freundin würde wahrscheinlich voller Stolz ihrer Vertrauten einen Schnappschuss von ihm zeigen, und die Freundin würde insgeheim den Kopf schütteln und sich verwirrt fragen, was die arme Frau an diesem biederen Trampel nur finden konnte.
Ehrlich gesagt war Shep ein wenig eifersüchtig. Nicht nur, dass der Doktor gebildeter, erfolgreicher und reicher war. Zwischen dem Arzt und seiner Patientin herrschte zudem eine Vertrautheit, der Shep selbst nach sechsundzwanzig Ehejahren nichts entgegenzusetzen hatte. Er wusste nicht, wie man die kritiklose Hingabe seiner Frau zu ihrem Arzt sonst hätte nennen sollen, wenn nicht Liebe. Dr. Knox hatte Glynis lediglich vertraut, was schon untypisch genug gewesen war; an Dr. Goldman dagegen glaubte sie, und das mit einer ans Erotische grenzenden Inbrunst. Wenn ihr Mann sie zum Essen ermahnte, wehrte sie sich mit Händen und Füßen. Doch als Ende Mai Dr. Goldman sie zum Essen drängte, setzte es sich Glynis regelrecht zur Aufgabe, zuzunehmen, und bat frohgemut um ihr Lieblingsgericht. Was immer für ihre volleren Wangen sorgte, hätte ihm eigentlich recht sein sollen, dennoch störte sich Shep dran.
Auf dem Weg aus der Parkgarage zu Goldmans Büro im siebenten Stock hielten sich Shep und Glynis schweigend an den Händen, wobei Shep mit der freien Hand den Wagen verriegelte und die Fahrstuhlknöpfe drückte. Bevor er ängstlich an der Tür klopfte, hielt er inne, um mit seiner Frau einen Blick auszutauschen. Es war ein Blick, wie ihn Angeklagte und Ehemann austauschen, während die Jury den Gerichtssaal betritt. Glynis war unschuldig, aber dieser Richter war unberechenbar.
Schwungvoll ging die Tür auf. »Mr und Mrs Knacker, bitte, kommen Sie rein!«
Shep warf einen einzigen Bick auf Goldmans strahlendes Gesicht und dachte: Nicht schuldig .
»Gut sehen Sie aus!«, rief Goldman, schüttelte Shep die Hand und legte ihm herzlich die andere Handfläche auf den Unterarm. (Shep sah nicht gut aus. Nachdem er monatelang die kalorienreichen Reste seiner Frau vertilgt hatte, ähnelte er Goldman von Tag zu Tag mehr, nur dass er einige Zentimeter kleiner und mit keinem solch poetischen Bewegungszauber ausgestattet war.) Als Goldman und Glynis sich begrüßten – »Und Sie sehen sehr gut aus!« –, war ihre drahtige
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