Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
abgesehen von dem widerwärtigen Nickelgeschmack, der alles durchdrang, von den Krabben bis zum Kuss. Alle Gesprächsbarrieren schienen an diesem Abend zu fallen, und endlich tauschten sie sich darüber aus, dass sich Amelia ganz schön rar gemacht hatte. Ein einziges Mal in diesem Frühjahr war ihre Tochter nach Elmsford gekommen und hatte sich schon nach einer Stunde wieder verabschiedet, um ihre Mutter nicht zu sehr zu »strapazieren«.
»Ich stehe ihr zu nahe«, spekulierte Glynis. »Sie sieht mich an und sieht sich selbst als Krebskranke, und es ist ihr unerträglich.«
»Aber sie ist nicht diejenige, die Krebs hat«, sagte Shep.
»Sie hat Angst.«
»Solange sie Angst um dich hat, stört mich das nicht«, sagte Shep. »Es stört mich aber, wenn sie Angst vor dir hat.«
»Sie ist jung«, konterte Glynis, die sich seit Beginn ihrer Krankheit zum ersten Mal bemühte, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen. »Sie hat sich nicht unter Kontrolle. Ich wette, sie ist sich nicht mal bewusst, was sie tut.«
»Nämlich?«
»Mich meiden, natürlich. Ich wette, wenn du sie darauf hinweisen würdest, dass sie nur ein einziges Mal bei uns war, wäre sie schockiert. Ich wette, jedes Mal, wenn sie sich endlich durchringt, mich anzurufen, kommt irgendetwas Mysteriöses dazwischen, und sie verschiebt den Anruf auf den nächsten Tag. Ich wette, das passiert so oft, wenn nicht jeden Tag, dass sie glaubt, sie würde täglich zu Hause anrufen.«
»Ich habe Angst, dass Amelia später ein schlechtes Gewissen haben wird –« Shep hielt inne. Da war es, das alte Denkmuster. Die Annahme, die bis sieben Uhr an diesem Abend gültig gewesen war.
»Weswegen?«
Er kriegte gerade noch die Kurve. »Wenn du wieder gesund bist. Sie könnte zurückschauen, und ihr könnte aufgehen, wie rücksichtslos sie war. Wie rücksichtslos sie gewesen ist angesichts einer so großen Krise in deinem Leben. Sie könnte ein schlechtes Gewissen bekommen; du könntest es ihr übelnehmen, verständlicherweise. Ich finde, sie sollte sich zusammenreißen, in eurem Interesse, für danach. Vielleicht sollte ich mal was zu ihr sagen.«
»Untersteh dich. Sie soll mich besuchen, weil sie will, nicht weil ihr Vater ihr die Hölle heiß macht. Außerdem«, fuhr Glynis fort und nahm einen Schluck Champagner, »zumindest ist Amelia öfter aufgetaucht als Beryl . Wahrscheinlich hat deine Schwester eingesehen, dass ich ihr zumindest theoretisch mehr leid tun müsste als sie sich selbst, und daraufhin ist sie Hals über Kopf bis nach New Hampshire geflüchtet.«
»Du willst Beryl doch sowieso nicht sehen. Und jetzt hat sie sich aus reiner Knauserei in die unangenehme Lage gebracht, ein bisschen Verantwortung für meinen Vater übernehmen zu müssen. Es hätte eigentlich gar nicht besser laufen können. Das könnte sogar charakterbildend sein.«
»Mit den Rohmaterialien deiner Schwester wäre das so, als wollte man ein Regal aus Pappe bauen.«
Beim Cheesecake lenkte Shep mit gespielter Leichtigkeit das Gespräch auf ein anderes Thema. »Willst du eigentlich jetzt, wo die Prognose so positiv aussieht, immer noch weiter die Asbestklage verfolgen?«
»Absolut! Vielleicht stehe ich diese Sache ja durch, aber deshalb habe ich nicht weniger Qualen gelitten. Die Leute, die mir das angetan haben, sollen dafür büßen.«
»Na ja, es werden kaum dieselben sein …«, sagte er zweifelnd. »In den dreißig Jahren, seit du auf der Kunstschule warst, wird man bei Forge Craft schon die zweite bis dritte Generation an Vorsitzenden verbraucht haben.«
»Sie beziehen immer noch ihre Gehälter von einer Firma, die mit diesem wirklich bösen Zeug ihren Profit gemacht hat. Aber das Beste ist, jetzt, wo ich wieder gesund werde, werde ich auch die Kraft haben, um auszusagen, auch für das Kreuzverhör. Wenn wir mit der Klage vor Gericht ziehen, werde ich vollen Einsatz bringen können.«
Shep verlor den Mut. Er wollte einen Rechtsstreit unter allen Umständen vermeiden. »Gut.« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Nächste Woche treffe ich mich noch mal mit Rick Mystic, diesem Anwalt.«
Bei Kaffee und Pfefferminztee schlug er den Bogen zurück zu ihrer Kunstschmiedearbeit, und so nahm der Abend einen heiteren Ausklang. Im Auto schlug er vor, ein Essen mit Carol und Jackson zu planen, um das Ergebnis der Computertomografie zu feiern. »Ein Themenabend«, sagte sie zustimmend. »Wir könnten passend zur Computertomografie Schichttorte servieren.«
SHEP FREUTE
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