Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
Vom Netzwerk:
SICH, dass er Zach in der Küche erwischte, auch wenn das nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit beruhte. Der Junge war so versessen darauf, nicht bemerkt zu werden, dass er kurz erstarrte, ohne das Auftauchen seiner Eltern zur Kenntnis zu nehmen, als könnten sie einfach durch ihn hindurchgehen. Dennoch war Shep erleichtert, ausnahmsweise mal nach Hause zu kommen und den Jungen nicht ermahnen zu müssen, dass er, wenn er schon nicht beim Wäschewaschen half, dann zumindest seine Sockenpaare zusammensuchte oder die Musik leiser drehte, seiner Mutter gehe es nicht gut. (»Ist ja mal was ganz Neues.«) Shep konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal eine frohe Kunde zu verbreiten hatte, und die überteuerte Limonade beim Abendessen hatte ihm noch mehr Laune gemacht.
    »Gut, dass ich dich sehe, Kumpel«, sagte Shep. Grimmig nahm Zach den freundschaftlichen Klaps auf die Schulter entgegen. »Vorhin in der Klinik gab es großartige Neuigkeiten.«
    Zach zuckte zusammen. Er sah nicht aus wie ein Junge, dem gute Neuigkeiten ins Haus standen. Und er beugte sich schützend über sein Putensandwich, als hätten sie ihn bei etwas Unanständigem erwischt. Der Junge war schmächtig und noch nicht ausgewachsen; warum sollte er wegen eines Sandwiches ein schlechtes Gewissen haben? »Und, was gibt’s?«, fragte er missmutig.
    Shep schilderte das Resultat der CT, beschrieb die beiden geschrumpften Fäulnisstellen; da er die »hartnäckigen« biphasische Zellen unerwähnt ließ, hätte man ihn ohne Weiteres jenes Aufrundens bezichtigen können, das er bei Philip Goldman befürchtet hatte. Aber es war ja nicht verkehrt, das Positive hervorzuheben, vor allem gegenüber einem sechzehnjährigen Jungen, dem das Schicksal einiges zugemutet hatte und der bei seinem zerstreuten und dauergestressten Vater wenig Rückhalt fand.
    »Echt?«
    Shep wartete und wartete auf eine Reaktion des Jungen, bis er sich damit zufriedengab, dass dieser zusammengesackte, passive, unveränderte Wunsch, sich in Luft aufzulösen, bereits die Reaktion seines Sohnes war . »Vielleicht ist dir nicht klar, was das bedeutet. Es bedeutet, dass deine Mutter wieder gesund wird. Dass die Chemo anschlägt. Dass wir diese Sache besiegen werden.«
    »Echt?« Zach sah seinem Vater in die Augen. Der weiche braune, ungebrochen starre Blick, betrübt und mitleidig, gab Shep auf einmal das Gefühl, dass er der Jüngere von beiden sei. Zach bewegte sich auf Glynis zu, die am Tisch saß, legte seiner Mutter die Hand auf die Schulter und drückte sie ein bisschen; seine Bewegungen waren eckig und zögerlich. »Das ist toll, Mama«, sagte er bleiern. »Ich bin total froh, dass es dir wieder besser geht.« Die Geste schien ihn einige Mühe zu kosten, er schlurfte erschöpft nach oben.
    Shep wollte gerade murmeln: »Was war das jetzt schon wieder?«, da klingelte das Telefon. Es war spät für einen Anruf. Er hatte eine seltsame Vorahnung, dass er den Anrufbeantworter drangehen lassen sollte. Seit mindestens einem Jahr hatten er und Glynis keinen so schönen Abend in der Stadt verlebt, und die Störung war unwillkommen. Es fiel ihm gerade niemand ein, mit dem er sich gern unterhalten hätte, abgesehen von seiner Frau, die ihm nun mit ihrem üblichen trockenen Humor, ihrer Feinfühligkeit und guten Laune zurückgegeben worden war, eine wundersame Auferstehung mit freundlicher Genehmigung der Philip-Goldman-Kirche. Er wollte seine eigene Champagnerblase nicht zum Zerplatzen bringen, der Zauber des Abends fühlte sich fragil an.
    Sein »Hallo?« war argwöhnisch.
    Im Verlauf des Telefonats sagte Shep wenig und fragte nicht viel. Anschließend schlenderte er hinaus auf die Veranda. Es war noch immer ein herrlicher Abend – Elmsford lag weit genug vor der Stadt, um die Sterne sehen zu können –, doch die Idylle war dahin. Er hätte das verdammte Telefon einfach klingeln lassen sollen.
    AUF DER FAHRT nach Berlin, katastrophalerweise auch noch am Wochenende des 4. Juli, dachte Shep über seinen Vater nach. Angesichts der höheren Sphären, in denen der Mann sich beruflich bewegt hatte, war Shep erst nach Jahren dahintergekommen, dass Geld für Gabriel Knacker sehr wohl ein Thema war. Der ehrwürdige Pastor hatte lang und breit gepredigt, immer die Lichter auszuschalten, aber nicht etwa aus Umweltschutzgründen, sondern weil er geizig war. Als Gemeindevorsteher war er so gierig gewesen wie ein Unternehmer an der Wall Street und hatte seinen klammen Schäfchen schamlos immer wieder

Weitere Kostenlose Bücher