Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
den Opferteller hingehalten, bis er endlich die heimelige schindelverkleidete Kirche mit etwas weniger heimeligen Rohrleitungen ausstatten konnte. Streng genommen hatte der Konflikt zwischen steigenden Kosten und rückläufiger Mitgliederzahl damals die meisten Sonntagsessen beherrscht. Der Rückschluss auf das Geldinteresse des Vaters hätte ihn wahrscheinlich zutiefst gekränkt, doch hinter den Tiraden des Pastors gegen wohlhabende Fabrikeigentümer und deren Zweithäuser und Sportwagen hatte Shep irgendwann eine Spur, nur eine Spur von ganz gewöhnlichem Neid ausgemacht.
Außer einigen Prellungen hatte Papa sich den linken Oberschenkel gebrochen. Er war beim Treppensteigen in einen Walter-Mosley-Krimi versunken gewesen. Im Grunde war es ein Unfall, der auch einem jüngeren Krimifan hätte passieren können, und zumindest war es nicht die Hüfte. Dennoch war mit achtzig jeder Knochenbruch gefährlich. Zum Glück war Beryl zu dem Zeitpunkt in der Nähe gewesen. Ihre Soforthilfemaßnahmen hatten ihre knappen altruistischen Vorräte leider rasch erschöpft; oder wie Glynis sagen würde, das Pappregal war unter der Last sofort zusammengebrochen. Jeder weitere Kampf mit Papierkram, Rechnungen und der bei einem behinderten älteren Patienten erforderlichen Logistik – die Frage, ob Papa wieder nach Hause dürfe, und wenn nicht, wohin dann mit ihm – war jetzt Sheps Problem. Ehrlich, nach dem Telefonat mit seiner Schwester am vergangenen Abend hätte man meinen können, sie sei die Taxifahrerin, die den alten Knacker zum Krankenhaus gefahren habe und jetzt ihr Fahrgeld eintreiben müsse.
Gern wäre er sentimental geworden. Aber wie jeder zeitgenössische Amerikaner im Angesicht einer medizinischen Katastrophe konnte er es sich nicht leisten, seine Kräfte allein an Zuneigung und Sorge zu verschwenden. Die Kosten für die akute Krise seines Vaters würden von Medicare gedeckt werden, aber nur zu achtzig Prozent; Shep hätte sich in den Hintern treten können, dass er seinem Vater nicht eine Medigap-Zusatzversicherung gekauft hatte, solange er das noch konnte. Aber richtig schwierig würde es werden, wenn die Krise erst mal überstanden war. Was die Kosten für eine Pflegekraft oder eine Senioreneinrichtung anging, verstand es sich von selbst, dass Beryl allenfalls ihren Senf dazugeben würde.
Vom Flussufer aus erhob sich die schmucklose Fassade von St. Anne’s, die strengen vertikalen Linien aus rotem Backstein, die von Rechtschaffenheit und geiziger Duldsamkeit sprachen. Mit der verlängerten Spitze ihres linken Kirchturms, der asymmetrisch höher aufragte als der rechte, hatte ihn das Wahrzeichen Berlins immer an eine alte Jungfer mit einem Regenschirm erinnert. Im Zusammenhang mit dem dahinter sich erhebenden Häusergewirr wirkte die hochmütige Erhabenheit der Kirche fehl am Platz. In Anbetracht des stetigen Verfalls der Stadt war der Umstand, dass sie sich am Zusammenfluss der Flüsse Dead und Androscoggin befand, heute auf gruselige Weise passend.
Gegenüber der St.-Anne’s-Kirche wuchsen Berlins letzte Fabrikschornsteine empor. Es ging das Gerücht, dass Fraser Paper dem Untergang geweiht war. (Wenn das Überleben seiner Heimatstadt von der geplanten Quadrennbahn abhängig wäre, dann gute Nacht. Greinende junge Leute auf greinenden vierrädrigen Gefährten, die sich anhörten wie ein Mückenschwarm: das war keine respektable Erlösung für erwachsene Menschen.) Klar, die rußgeschwärzten Backsteintürme seiner Kindheit hatten einen diesigen weißen Gestank in die Atmosphäre gepumpt. Bei den Zellstoffarbeitern war eine hohe Darmkrebs- und Leukämierate festgestellt worden. Umwelttechnisch gesehen war es vielleicht gesünder für Berlin, dass die meisten Fabriken dichtgemacht hatten. Dennoch fehlten sie ihm. Die spitze Stadtsilhouette war charakteristisch gewesen. Dass sich die Touristen beim Vorbeifahren an seiner Heimatstadt die Nase zuhielten, hatte ihn als Kind immer auf widersinnige Weise mit Stolz erfüllt. Die klappernden, höhlenartigen Fabriken, zu denen die Grundschulklassen Pilgerfahrten unternommen hatten, waren die eigentlichen Kathedralen von Berlin, New Hampshire, gewesen. Außerdem hatte Shep immer zu schätzen gewusst, dass er aus einer Stadt stammte, die etwas Greifbares herstellte, etwas, das man in der Hand halten, zusammenfalten und beschriften konnte. Er hatte wenig übrig für Städte, deren Wirtschaft auf flüchtigen »Dienstleistungen« oder schwer fassbaren Raffinessen wie Software
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