Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
Vom Netzwerk:
basierten. Shep gehörte eigentlich nicht in dieses Jahrhundert, und er wusste das.
    Als Shep damals nach New York gezogen war, hatte er sich seiner Provinzherkunft geschämt und an seiner Aussprache gefeilt. Die Beschämung hatte sich längst gelegt. Jeder, der aus einem Zehntausend-Seelen-Nest ausgewandert war, stellte eine Seltenheit dar; aus New York kamen viele. Seine Widerstandsfähigkeit gegen kaltes Wetter hatte er dieser kargen nördlichen Ansiedlung zu verdanken. Durch meterhohen Schnee zur Schule zu stapfen, während einem der Eisregen ins Gesicht peitschte. Das Taubheitsgefühl in den Füßen, schon nach zwei Straßen – das, liebe Glynis, nennt man periphere Neuropathie. Jene Robustheit, die ihm als Junge in Fleisch und Blut übergegangen war, hatte ihm im letzten halben Jahr gute Dienste geleistet: Wie man in schweren Zeiten klaglos zupackt, sich zu einem kleinen, schützenden Ich zusammenballt, um feindlichen Angriffen von außen standzuhalten.
    Selbst bei halber Produktionskraft entließ Fraser Paper noch immer einen betörenden Duft. Auf dem Parkplatz des Androscoggin Valley Hospital sog Shep die bittere Luft tief in seine Lungen: Nostalgie. Mit seiner neuen Fassade aus glatt poliertem Granit war es nicht mehr das heruntergekommene viktorianische Krankenhaus gleichen Namens, in dem man ihm mit zehn die Mandeln herausgenommen hatte. Das ursprüngliche Androscoggin Valley Hospital hatte ehrlicher gewirkt, mehr wie ein echtes Krankenhaus, in dem noch streng gelitten und Bettwäsche noch ausgekocht wurde. Die neue Klinik aus den Siebzigerjahren hüllte sich in kommunale Unschuld und war ein Gebäude, in dem man sich eher den Führerschein verlängern als ein Bein abnehmen ließ. Es war ordentlicher, sauberer und heller und wirkte wie eine Täuschung – wie der strahlende Sonnenschein an einem Wintermorgen in New Hampshire, der so einladend wirkte, bis man vor die Tür trat und einem die Windchill-Temperatur von minus eins ins Gesicht schlug.
    Als ihm schließlich das Zimmer gezeigt wurde, in dem sein Vater noch schlief, um sich von der Narkose nach seiner Operation am Morgen zu erholen, dachte Shep nicht mehr über Medicare nach. Sie hatten ihre Meinungsverschiedenheiten gehabt, aber Gabriel Knacker war immer eine Respektsperson für ihn gewesen. Seine Wortgewalt war mit seiner kleinen Gemeinde nie zu vereinbaren gewesen, das starke Engagement des Pastors bei Fragen wie der Weltarmut oder der Apartheid in Südafrika hatte nie gepasst zu der sehr pragmatischen Sorge der Gemeinde um ihre Arbeitsplätze in den Mühlen. Als Vater hatte er mit derselben Unbarmherzigkeit seine Urteile gefällt, mit denen andere Väter ihren Kindern den Hintern versohlten. Als Junge war es Sheps größte Angst gewesen, seinen Vater zu »enttäuschen«. Als einstiger Firmengründer, der sich in seinem eigenen Unternehmen zum Funktionär degradiert hatte, war er zweifellos zur permanenten Enttäuschung geworden.
    Für die meisten erwachsenen Kinder muss früher oder später der Augenblick kommen: die erschreckende Entdeckung, dass die Eltern alt geworden sind. Der autoritäre Eindruck aus der Kindheit ist so nachhaltig, dass ihnen dieser Umstand oft erst dann zu dämmern beginnt, wenn Mutter oder Vater für alle anderen längst eindeutig geriatrisch erscheint. Schon das Händewaschen am Desinfektionsmittelspender vor der Tür des Krankenzimmers machte jetzt allerdings auf die objektive Realität des väterlichen Verfalls aufmerksam.
    Die aufragende Gestalt seiner Kindheit nahm in dem schmalen Bett unpassend wenig Raum ein; vielleicht hätte Shep doch versuchen sollen, den unverändert nur aus gegrilltem Käsetoast bestehenden Speiseplan etwas aufzupeppen. Die Haut seines Vaters hatte etwas Wässriges, Durchscheinendes, fraglos schon seit Jahren, nur dass Shep darüber hinweggesehen hatte. Bis Ende sechzig hatte der Pastor einen bemerkenswert vollen, dunklen Haarschopf gehabt – der seinen Sohn irgendwie darüber hinweggetäuscht hatte, dass der Mann in den letzten zehn Jahren doch endlich kahl und die paar verbleibenden Strähnen endlich weiß geworden waren. Die Hand, die die Bettdecke umklammerte, war faltig, fleckig und klein, wobei die Verwandlung jener breiten, gewölbten Extremität, die sich einst allwöchentlich zum Segen erhoben hatte, vermutlich nicht über Nacht geschehen war.
    Shep und sein Vater hatten sich reichlich gestritten – weil Shep den »höheren Bildungsweg« verschmäht, seinen »scharfen Verstand«

Weitere Kostenlose Bücher