Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
muss unbedingt die Zeitungsversion haben. Du hast sein Arbeitszimmer da oben ja gesehen. Da stapeln sich die Ordner mit vergilbten Zeitungsausschnitten. Ich weiß nicht; ist doch irgendwie traurig. Was will er mit dem ganzen Zeugs?«
»Ist doch eher ein gutes Zeichen, dass er sich immer noch dafür interessiert, was in der Welt passiert«, sagte Shep beharrlich. »Die meisten Achtzigjährigen lesen überhaupt keine Zeitung mehr, geschweige denn, dass sie Artikel ausschneiden.«
Dass er nicht bereit war, gemeinsame Sache mit ihr zu machen, ging an Beryl vorbei. »Ist dir eigentlich klar, dass kaum ein Tag vergeht, wo er keinen Leserbrief an irgendeine Redaktion schickt? Manchmal an den Sentinel , aber meistens an die New York Times oder die Washington Post . Die Briefe werden so gut wie nie abgedruckt. Als würde die ganze Welt nur darauf warten, was Gabriel Knacker zu irgendeinem Ereignis zu sagen hat. Das ist doch wirklich traurig. Ich stell mir diese Leserbriefredakteure vor, die schon wieder einen Brief mit Absender Berlin, New Hampshire, in der Post haben, und wie sie die Augen verdrehen und den Brief ungeöffnet in den Müll werfen.«
Shep war nicht wohl dabei, von Glynis getrennt zu sein, und er hatte nicht die Absicht, Wurzeln zu schlagen; das große Haareraufen anlässlich ihres Vaters würde verschoben werden müssen. »Und, wie ist die Prognose? Glaubst du, er kann wieder hierher zurück?«
»Das würde aber heißen, dass wir eine Pflegerin einstellen müssten, weil er vermutlich wochenlang bettlägrig sein wird. Wahrscheinlich bräuchte er sogar eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, und zwar, was weiß ich, bis ans Ende aller Zeiten.«
»Das ist wahr …« Shep sah seiner Schwester fest in die Augen.
»Und wer weiß, was für eine Pflegerin man dann erwischt. Wenn sie ein Drache ist, könnte sie einem das Leben hier zur Hölle machen.«
»Nach allem, was ich gelesen habe, kann eine Vollzeit-Pflegekraft, die im Haus wohnt, an die Hunderttausend im Jahr kosten.«
»Ich fass es nicht, dass wir kaum eine Minute über dieses Thema reden, und schon geht’s dir wieder nur ums Geld.« Mit ihrem Lächeln versuchte sie die Spitze als Witz zu verkleiden, aber ohne Erfolg.
»Da er nicht hier ist, um uns zu sagen, was er als Nächstes tun möchte, können wir beide uns doch nur über Geld unterhalten.«
»Egal, was es kostet«, erklärte Beryl, »es kommt doch vor allem darauf an, was das Beste für Papa ist.«
»Meinst du nicht, dass er lieber wieder nach Hause möchte?«
»Ich glaub aber nicht, dass es praktikabel ist, wenn er hier lebt«, sagte Beryl. »Es könnte sogar gefährlich sein; er könnte wieder stürzen. Außerdem würde es das Unvermeidliche nur hinauszögern. Das ist der ideale Zeitpunkt, um den entscheidenden Schritt zu machen und irgendeine Einrichtung zu finden, wo er seine Ärzte hat und sein Essen bekommt und wo er in Gesellschaft von Gleichaltrigen ist.«
»Und du bleibst dann hier im Haus wohnen. So stellst du dir das vor, ja?«
» Vielleicht würde ich noch eine Zeit lang hier wohnen. Was ist denn daran so schrecklich? Irgendjemand muss doch hier die Stellung halten.«
»›Die Stellung‹ ist Papas einziges Kapital. Es ist alles, was er hat, um mögliche Kosten von einhunderttausend Dollar im Jahr zu decken, egal, wofür er sich entscheidet – ob Pflegerin, Altenheim oder betreutes Wohnen.«
»Willst du damit sagen, dass du mir das Haus unterm Hintern wegverkaufen willst? Wo soll ich denn dann hin, verdammt noch mal?«
»Wo erwachsene Menschen hingehen, die nicht mehr bei ihren Eltern wohnen.«
»Das ist doch lächerlich! Wozu gibt’s denn schließlich dieses ganze Medicare und Medizeugs?«
»Das hab ich dir doch schon auseinanderzusetzen versucht, als dir von meiner Lasagne schlecht geworden ist.« Er warf einen raschen Blick auf seinen Teller. »Medicare übernimmt keine Langzeit-Pflegekosten, Punkt. Was du meinst, ist Medicaid.«
Gelangweilt winkte Beryl ab. »Verwechsle ich immer.«
»Medicaid hat strenge Vorgaben, und es würde eine Menge Papierkram erfordern, bis sie ihn überhaupt erst aufnehmen. Die zahlen nur bei Leuten, die wirklich kein Geld haben. Papa wird sich niemals qualifizieren, solange er dieses Haus besitzt und jeden Monat seine Pension bezieht. Also müssen wir das Haus entweder verkaufen, das Geld ausgeben und seinen Rentenfonds auflösen, oder wir –«, bei dem Pronomen stockte er, beschloss aber, dass es für die moralische Erziehung seiner
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