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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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verschwendet, sich dem Mammon verschrieben und einer eigenen abgeschmackten, abtrünnigen Vorstellung vom »Jenseits« nachgegangen war. (Sparen für die Armen in der Dritten Welt wäre eine Sache gewesen; Bargeld zu horten, um sich eines Tages mit einem Glas Ananassaft auf die faule Haut zu legen, eine ganz andere.) Doch der Generationskonflikt war kein Kampf, den ein vernünftiger Sohn zu gewinnen hoffte. Shep wollte nicht, dass sein Vater einfach nur deshalb kapitulierte, weil seine vielen Jahre auf dem Planeten klammheimlich vom Vorteil zur Behinderung wurden; ein Sieg nur aufgrund von Sheps Jugend war billig. Er wollte nicht, dass sein Vater aufhörte, ein beängstigender, furchteinflößender, ärgerlicher oder unüberwindbarer Mann zu sein. Er wollte nicht, dass sein Vater alt wurde, was eigentlich nur hieß, dass er nicht wollte, dass sein Vater aufhörte, sein Vater zu sein.
    Shep küsste dem schlafenden Patienten behutsam die Stirn; die dünne Schädelhaut fühlte sich beunruhigend beweglich an unter seinen Lippen. Er setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. Dort hielt er etwa eine halbe Stunde Wache. Er lauschte dem unregelmäßigen Atem seines Vaters und legte ihm hin und wieder eine Hand auf den verkümmerten Arm. Es war eine kurze Sitzung des schlichten Da-Seins von jener Art, wie er sie sich für das Jenseits erhofft hatte. Doch das, was Glynis »Nichtstun« nannte, das Riechen, Sehen und Hören und das stille Beobachten eines anderen Menschen, war zweifelsohne doch auch eine Form von Aktivität, vielleicht sogar die wichtigste überhaupt. Er war nicht sicher, ob sein Vater seine Gegenwart spürte, aber das war in Ordnung. Es war eine Form von Gemeinsamkeit, die er gerade in letzter Zeit mit Glynis zu schätzen gelernt hatte: wortlos, aber so verblüffend anders, als wenn man nur für sich allein war.
    IN DER MT. Forist Street bog Shep in die Einfahrt: Kein Wunder, dass er sich wie ein Bauerntrampel vorgekommen war, als er nach New York kam. In seinem Heimatort konnte man nicht mal die Hauptstadt Deutschlands aussprechen oder das Wort »forest« richtig buchstabieren. Wie immer verwirrte ihn das zweigeschossige, im Kolonialstil gebaute und mit sepiafarbenen Schindeln verkleidete Haus mit der Rundumveranda. Es rief ein warmes Gefühl der Gemütlichkeit hervor, zweideutig gepaart mit einer depressiven Stimmung, wie ein Eimer goldener Farbe, der mit ein paar Tropfen grünlichem Umbra versetzt wird und sich in einen unschönen namenlosen Farbton verwandelt. Verklärte Bilder aus seiner Erinnerung kollidierten mit der unangenehmen Einsicht, dass das Haus allmählich baufällig wurde. Die angeschlagenen Zedernholzschindeln würden bei Gelegenheit ersetzt werden müssen. Das Geländer der Veranda war verzogen. Dennoch war es ein solides Haus, Baujahr 1912, mit einer kleinen architektonischen Besonderheit in Form eines eigenwilligen runden Türmchens, das auf der rechten Seite ein drittes Geschoss bildete. Sein altes Kinderzimmer lag dort oben. Dass es nahezu unmöglich gewesen war, ein rundes Zimmer zu möblieren, war nichts, was ihn als Jungen gekümmert hatte. Er liebte die Wendeltreppe und die Baumhausatmosphäre sowie das Plätschern des Baches hangabwärts, das durch die Bogenfenster drang. Als Kind hat man immer das Gefühl, im Zentrum des Universums zu wohnen, es fällt einem nie auf, dass man eigentlich am Ende der Welt lebt.
    Beryl winkte von der Veranda aus. Ihr unförmiges Häkeltop saß so locker, dass ihr peinlich auffälliger pinkfarbener BH hervorschaute. Eigentlich hatte sie nicht mehr ganz die Figur für derart enge Jeansshorts. Andererseits konnte man die Tage, an denen man sich überhaupt kurze Hosen erlauben konnte, im nördlichen New Hampshire an einer Hand abzählen, und kaum dass das Thermometer die 15-Grad-Marke erreichte, liefen die einheimischen Mädchen schon in Hotpants herum.
    »Shepardo! Ich bin ja so froh, dass du da bist!« Sie fiel ihm in die Arme. »Du kannst dir gar nicht vorstellen … Ich hab mich so allein gefühlt. Gott, immer wieder höre ich dieses Wumms-wumms-wumms auf der Treppe. Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan. Und ich muss immer wieder daran denken, was passiert wäre, wenn ich nicht hier gewesen wäre.«
    »Ja, Glück gehabt.« Shep schulterte seine Tasche und trug sie ins Haus, während Beryl vor sich hin plapperte, dass sie »alles, was in ihrer Macht stand, getan« habe, »total neben der Spur« sei und »nicht mehr weiter« wisse und – sie

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