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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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griff sich beidhändig mit drastischer Geste in die dicken braunen Locken – wirklich »erst mal ’ne Verschnaufpause« brauche. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie großartig hatte tun müssen, außer den Krankenwagen zu rufen und ihren Vater in die Klinik einweisen zu lassen, aber er wollte nicht undankbar sein.
    Shep machte sich auf den Weg nach oben, um seine Tasche abzustellen. »Ach ja, du müsstest dann mein Zimmer nehmen«, rief Beryl. »Ich bin jetzt in deinem.«
    Er blieb stehen. »Wieso das?«
    »Du weißt doch, dass ich immer schon dein Zimmer haben wollte. Es war das coolste. Und ich wohn doch hier; du bist doch nur zu Besuch, oder?«
    Er musste seine Verärgerung hinunterschlucken, in der noch immer Unmut mitschwang, weil Beryl mit achtzehn unbedingt ihrem Bruder nach New York hatte folgen müssen. Als er wieder unten war, sah Shep, wie sehr seine Schwester das Haus seines Vaters in Beschlag genommen hatte. In jeder Ecke standen ihre schrägen Antiquitäten aus der Wohnung auf der West 19th Street; Filmzeitschriften und Zubehör benetzten jede Fläche wie Hundepipi. Ihr Laptop hatte seinen Ehrenplatz auf dem mit Ausdrucken übersäten Esstisch. Ohne Rücksicht auf den Heuschnupfen ihres Vaters steckte ein welker Strauß wilder Möhren in einem Mayonnaiseglas.
    »Hast du nach Papa gesehen?«
    » Gesehen hab ich ihn.« Shep ließ sich auf die Couch fallen. »Er hat noch geschlafen. Aber die Schwestern meinten, er hätte die Operation ziemlich gut überstanden.«
    »Ich weiß, ich weiß. Ich ruf ja praktisch alle halbe Stunde an.«
    Shep fragte sich, ob seine Schwester mit der gleichen eingebildeten Häufigkeit im Krankenhaus anrief wie möglicherweise Amelia ihre Mutter. »Sag mal, hast du hier irgendwas zu trinken? Ich bin total groggy.«
    »Klar … da lässt sich bestimmt was auftreiben.« Widerwillig schlurfte Beryl in die Küche und kam mit einer fast leeren Flasche billigen Weißweins zurück. Das Glas, das sie ihm einschenkte, war nicht mehr als ein Fingerhut voll, und er begriff, was sie damit sagen wollte. Es reichte nicht, dass er zu Nancy hinübergelaufen und vereinbart hatte, dass sich Glynis im Notfall an sie wenden könne, dass er seiner zufälligerweise krebskranken Frau das Frühstück gemacht und im Internet schon mal einige Pflegeeinrichtungen in New Hampshire recherchiert hatte und acht Stunden in dichtem Urlaubsverkehr einmal quer durch Neuengland gefahren war, nein, er hätte außerdem noch ein paar genießbare Flaschen Wein, ein Sechserpack Bier und eine Familientüte Doritos mitbringen müssen, vorzugsweise in Beryls Lieblingsgeschmack Cool Ranch.
    »Und, wo gehen wir heute Abend essen?«, fragte Beryl. »Ins Moonbeam Café? Ins Eastern Depot?«
    Das Moonbeam war unten in Gorham, wo er gerade herkam, und die Fahrt zurück würde seinen Alkoholkonsum auf weniger beschränken, als es seiner Stimmung entsprach. Das Eastern Depot war jene Art von Nobelschuppen, der für Jahrestage und Geburtstage angemietet wurde, und Sheps natürliche Spendierfreude war ein wenig überstrapaziert. »Was spricht denn dagegen, zum Black Bear zu laufen?«
    Beryl rümpfte die Nase. »Da gibt’s nur Fleisch. Ich bin jetzt wieder Vegetarierin.«
    »Seit wann?«
    »Seit der Lasagne damals bei dir zu Hause. Davon war mir total schlecht.« Schlecht war ihr vor allem deshalb gewesen, weil sie ihren Willen nicht bekommen hatte.
    »Danke.«
    »Nimm’s nicht persönlich.«
    »Warum essen wir nicht hier? Ich fahr eben runter zum Weinladen in der Pleasant Street, aber mehr ist bei mir nicht drin.«
    Dass er sie nicht zum Essen ausführen wollte, würde ihn teuer zu stehen kommen, dafür würde sie sorgen. Aber das änderte nichts, am Ende würde Shep ja ohnehin mit der Rechnung dasitzen.
    »ICH STERBE VOR Hunger«, verkündete Shep und stellte die Flaschen auf der Küchentheke ab.
    Seine Schwester warf einen Blick auf seinen Bauchumfang und zog eine Augenbraue hoch. »Verhungert siehst du nicht gerade aus.«
    »Ich muss für Glynis immer so mächtig wie möglich kochen. Das meiste davon ess dann aber ich.«
    »Oh, das tut mir so leid, wegen der Sache mit Papa hab ich ganz vergessen zu fragen!« Beryl dreht sich vom Herd weg und legte die Stirn in Falten, um möglichst betroffen zu wirken. »Wie geht ’ s ihr denn?«
    Es war ein Gesichtsausdruck, den Shep inzwischen gut kannte. Schon die gedehnte Betonung war identisch mit dem Tonfall der Erkundigungen, die ihm nun seit Monaten vonseiten diverser

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