Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Stolz.«
»Ach nein?« Carol warf ihm einen Blick zu. »Wo liegt dieses ›Pemba‹ überhaupt?«
»Pemba ist eine Insel vor Sansibar«, sagte Jackson. »Berühmt für den Anbau von Nelken. Die ganze Insel stinkt danach, behauptet zumindest Shep. Ich seh ihn schon vor mir, meinen Kumpel, wie er sich in seiner Hängematte räkelt, und überall der Duft von heißem Whiskey und Kürbistorte.«
»Ich wette, er fährt«, sagte Flicka. »Wenn er das gesagt hat. Shep ist kein Lügner.« Obwohl sie oft für die jüngere Schwester der elfjährigen Heather gehalten wurde, war sie sechzehn; ähnlich wie man das relative Alter von Haustieren berechnet, bewegte sich im Anbetracht ihres Leidens ihr wahres Alter vermutlich um die hundertdrei. Da sich für sie das Hier und Jetzt als ewige Prüfung darstellte, war Flicka selbstverständlich gefesselt von der Vorstellung eines Anderswo.
Jackson fuhr seiner Tochter durch das feine blonde Haar. Als Kind hatten sie es ihr immer kurz schneiden lassen, damit nicht ständig ihr Erbrochenes darin hängenblieb, doch seit der Fundoplikation konnte sie ohnehin nur noch würgen und hatte sich die Haare wachsen lassen. »Endlich mal jemand, der den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren hat!«
»Aber was will er da?«, bohrte Carol weiter. »Raffinierte Zimmerspringbrunnen für die Dritte Welt bauen? Shep ist doch gar nicht der Typ, der den ganzen Tag in der Hängematte liegt.«
»Vielleicht keine Zimmerspringbrunnen, aber, na ja, Brunnen könnte er tatsächlich bauen. Shep ist praktisch veranlagt . Er kann gar nicht anders. Wenn ich irgendwo in einer Lehmhütte wohnen würde, hätte ich auch am liebsten ihn als Nachbarn.«
»Flicka, weg vom Herd!«
»Ich bin nicht mal in der Nähe von deinem verdammten Herd«, sagte Flicka, wie üblich etwas lallend. Sie näselte nicht nur, sondern klang zudem immer leicht angetrunken, wie Stephen Hawking nach einer Flasche Wild Turkey. Außerdem klang sie schlecht gelaunt, aber das war echt. Es gehörte zu den Dingen, die Jackson an ihr liebte. Sie weigerte sich, das behinderte Sonnenscheinchen zu spielen, das mit seinem unglaublichen Lebensmut die Herzen aufgehen lässt.
»Jetzt lass das!«, sagte Carol, nahm Flicka das Schälmesser aus der Hand und knallte es zurück auf die Arbeitsplatte.
Mit einem Gang, der auf die meisten unbeholfen wirkte, den Jackson aber immer als seltsam anmutig empfand, torkelte Flicka zum Tisch: Sie schwankte mit dem Oberkörper, während sie mit eleganten kleinen Ruderbewegungen das Schlingern ausglich und dabei vorsichtig die Füße abrollte wie eine Drahtseilartistin. »Wovor hast du denn schon wieder Angst?«, sagte sie. »Dass ich meine Finger in den Salat schneide, weil ich sie nicht von den Mohrrüben unterscheiden konnte?«
»Das ist nicht lustig«, sagte Carol.
Es war nicht lustig. Als Neunjährige hatte Flicka in der Küche helfen wollen und den Krautsalat zubereitet, und nur weil der Kohl auf einmal von grün zu rot wechselte, hatte Jackson überhaupt bemerkt, dass das Ende ihres linken Zeigefingers fehlte. Man hatte ihn ihr auf der Intensivstation wieder angenäht, aber seitdem war ihm der Appetit auf Krautsalat vergangen. Auf den ersten Blick mochte es vielleicht ein Vorteil sein, dass die Gliedmaßen seiner Tochter so wenig schmerzempfindlich waren, dass der Finger sogar ohne örtliche Betäubung wieder angenäht werden konnte, doch als er seine Kollegen in der Firma aufforderte, ernsthaft über die Sache nachzudenken, wurden sie blass. Diese Kinder, hatte er erklärt, brechen sich ein Bein und schleifen es kilometerweit hinter sich her, und sie kommen erst drauf, dass irgendwas nicht stimmt, weil das Bein ständig im Weg ist.
»Ich hab nie verstanden, warum dir Sheps Auswanderung so am Herzen liegt«, fuhr Carol fort. »Er ist dein bester Freund. Würdest du ihn denn nicht vermissen?«
»Klar, Süße. Ich werd ihn sogar sehr vermissen.« Jackson nahm sich ein Bier und schwor sich, Shep auch vor all den Ungläubigen bei Allrounder weiterhin zu verteidigen. (Für Jackson hieß die Firma immer noch Allrounder, egal, welchen bescheuerten Namen der Fettsack ihr verpasst hatte.) Vielleicht hätte er warten sollen, bis Shep in seinem Flieger saß, aber heute nach der Mittagspause hatte er sich nicht zurückhalten können, als der Webdesigner mal wieder eine hämische Bemerkung fallen ließ. So konnte Jackson mit unsagbarer Genugtuung verkünden, dass Shep sein Flugticket bereits in der Tasche hatte, du
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