Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
als er erfuhr, dass jede Apotheke standardmäßig Placebos aus Zucker auf Lager hatte, also war Heather vermutlich nicht die Einzige, die die kleinen braunen Lakritzkapseln für zehn Doller pro Glas verschlang.
Während Carol drei Kapseln herausschüttelte, wandte Jackson den Blick ab. Er war mit diesem Quatsch überhaupt nicht einverstanden. Er konnte Carols Einwand ja verstehen, dass Heather hinter den unaufhörlichen medizinischen Krisen ihrer Schwester litt. Aber wenn Heather mehr Aufmerksamkeit brauchte, war ein Pseudorezept keine Lösung. Man sollte ihr lieber beibringen, ihre Gesundheit zu schätzen und dankbar dafür zu sein. Klar, damals, als Carol mit Flicka schwanger war, hatte es noch keinen Labortest für familiäre Dysautonomie gegeben, und nachdem man ihnen versichert hatte, dass das Baby gesund sei, waren sie entspannt gewesen. (Und dann kam die große Überraschung. Als ihr Kinderarzt endlich davon abließ, die veraltete Diagnose vorzuschieben, dass das Kind »nicht gedeihe«, und als er endlich erkannt hatte, warum ihr Neugeborenes nicht an die Brust wollte, immer magerer wurde und sich pausenlos übergeben musste, war die Nachricht gerade wegen der fälschlichen Beruhigung aus dem ersten Trimester umso schwerer zu ertragen gewesen.) Aber Herrgott, pünktlich zu Carols zweiter Schwangerschaft war ein Test entwickelt worden, und sie wussten, dass die Chancen, ein weiteres Kind mit FD zu bekommen, eins zu vier standen; das Warten auf das Ergebnis der Fruchtwasseruntersuchung hatte sie an den Rand des Herzinfarkts getrieben. Als die Geburtshelferin mit strahlendem Lächeln grünes Licht gab, war Heathers zukünftige Mutter so erleichtert, dass ihr die Tränen kamen. Ahnte Heather, dass es sie gar nicht gäbe, wenn ihr Fötus ebenfalls zwei Ausführungen des FD-Gens aufgewiesen hätte, um die sie ihre Schwester törichterweise beneidete? Wohl kaum, denn für gewöhnlich teilte man seinen Kindern nicht mit, wie knapp sie an einer Abtreibung vorbeigeschrammt waren.
Und auch sein Erstgeborenes weihte man nicht ein, denn die Schlussfolgerung war klar: Hätten sie davon gewusst, wäre Flicka postwendend zurückgeschickt worden. Jackson würde nicht so weit gehen und behaupten, dass sie es tatsächlich hätten tun sollen, aber natürlich machte man sich seine Gedanken. Manchmal, in den schlimmsten Phasen – kaum war die Skoliosekorrektur überstanden, mussten sie ihr beibringen, dass als Nächstes eine »Fundoplikation« anstand, mit der ihr chronischer Säurereflux behandelt werden sollte –, kam bei ihm der Verdacht auf, dass Flicka wütend war, und zwar nicht nur wütend im Sinne von »ausgerechnet ich«, sondern vor allem wütend auf ihre Eltern, die dafür verantwortlich waren, dass sie überhaupt auf der Welt war.
So hoch der Preis für sie war, er hatte Flicka immer wieder versichert – gerade weil sie nicht die abgedroschene Unschuldsengel-Show abzog, mit der sie ihren Vater zu Tode gelangweilt hätte –, dass sie ihnen wirklich Freude machte. Es war seine Schuld, dass sie so eine Zicke war – eine boshafte Zicke, eine unterhaltsame Zicke, aber dennoch eine Zicke. Aber wie hätte man das Mädchen nicht verwöhnen sollen, zumindest ein bisschen? Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, FD war nun mal eine degenerative Krankheit, und dementsprechend ging es mit Flicka bergab.
Dabei war sie mal so niedlich gewesen. In den Augen ihres Vaters war sie zwar noch immer niedlich, aber dennoch fiel ihm auf, dass ihr Kinn begonnen hatte, sich nach oben zu runden und vorzustehen wie bei Popeye, wodurch ihr Gesicht etwas permanent Kampflustiges hatte. Ihre Nase wuchs in die entgegengesetzte Richtung und wirkte wie eingeschlagen, wobei sich die Spitze nach unten wölbte und nach innen bog, als wollten sich Nase und Kinn berühren. Ihr Mund war unverhältnismäßig in die Breite gewachsen, die Augen zu weit auseinandergerückt, und seitdem ihre Kinnpartie nach oben wuchs, hatte sie angefangen, ihre Vorderzähne auf die Außenkante der Unterlippe aufzusetzen. Es war nicht seine Sorge, dass sie an Reiz verlor; es war seine Sorge, dass es die äußerliche Manifestation einer weitaus schlimmeren, unsichtbaren Entwicklung war, die er noch immer nicht richtig begreifen wollte, und selbst wenn er es täte, würde es nichts ändern.
Er fing an, über Heather nachzudenken, und landete dann wieder bei Flicka, also hatte Carol vielleicht doch recht, dass Heather sich vernachlässigt fühlte. Ein paar Zuckerpillen
Weitere Kostenlose Bücher