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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Armleuchter , und von diesem heutigen Nachmittag an nie wieder das Innere dieser überheizten Büroräume würde ansichtig werden müssen. Da war diesem Vollidioten aber die Kinnlade runtergeklappt. Er hatte Carol noch nicht mit der Idee vertraut gemacht, aber er stellte sich vor, dass er selbst mal hinfahren würde, sobald Shep dort Fuß gefasst hatte. Streng genommen stellte er sich vor, wenn auch noch sehr unkonkret, dass er seine Familie irgendwann unter den Arm nehmen und für immer zu seinem Kumpel nach Pemba ziehen würde. Offenbar wollte Carol noch nicht darüber nachdenken, aber irgendwo am Horizont dräute eine finstere Zeit, in der ein Tapetenwechsel therapeutische Wirkung haben könnte.
    »Einem muss es doch mal gelingen, hier rauszukommen und ein besseres Leben zu führen, oder nicht?«, fuhr er nach einem Schluck aus der Flasche fort und legte die Füße hoch. »Großer Gott, sollen die Einwanderer das Land ruhig haben. Wir leben hier in einer Riesenabzocke von einem Land; die ursprünglichen Bewohner sollten ihre Sachen packen, die Tür hinter sich zuziehen und dem Pöbel den Schlüssel zuwerfen, das wär’s doch. Dann ziehen wir in diese hippen Ethnodörfer nach Mosambik und Cancún, wo die Häuser alle leer stehen, weil die Besitzer bei uns die Klos putzen. Wenn die alle so versessen drauf sind, hier zu leben, meinetwegen. Sollen sie sich totarbeiten und ihren halben Lohn an die Regierung abdrücken, die dafür hin und wieder einen Bürgersteig erneuert oder ein fremdes Land überfällt –«
    »Jackson, fang nicht wieder damit an.«
    »Ich hab noch gar nicht angefangen. Ich hab gerade erst angefangen –«
    »Du willst doch nicht, dass sich Flicka zu sehr aufregt .«
    »Regst du dich etwa meinetwegen zu sehr auf, Mäuschen?«
    »Ich würde mich allenfalls dann zu sehr aufregen , wenn du nicht mehr über Steuern und Geschröpftwerden und Absahner und arme Säue wettern würdest«, sagte Flicka gedehnt. »Und dass die Asiaten gerade dabei sind, die Weltherrschaft zu übernehmen. Dass ›niemand in diesem Land noch irgendwas produziert, das nicht sofort kaputtgeht‹. Dass wir ›unsere Kinder zu Schlappschwänzen erziehen‹.«
    Das Mädchen mochte aussehen wie eine Zehnjährige und sich anhören, als wäre sie leicht zurückgeblieben, aber Flicka war blitzgescheit – »high functioning«, ein Ausdruck, den Jackson immer als Beleidigung empfunden hatte. Da Carol den Großteil der elterlichen Schwerstarbeit leistete, war es vielleicht unfair, aber Flicka und ihr Vater waren immer schon Verbündete gewesen. Sie mochte ein blasses, schmächtiges Kind mit kraftlosem Haar, fleckiger Haut und einem dauerhaft defekten »autonomen« System sein (einem biologischen Netzwerk, von dem er vor ihrer Diagnose noch nie gehört hatte), während er ein vierundvierzigjähriger dunkelhaariger, kräftig gebauter Handwerker halb-baskischer Abstammung war, doch gefühlsmäßig hatten beide die gleiche Standardeinstellung, nämlich: Ekel .
    »Jetzt plapper mir nicht wieder das mit den Asiaten und der Weltherrschaft nach, ohne hinzuzufügen, dass dein Vater der Meinung ist, sie hätten den Erfolg nicht auch verdient«, sagte Jackson tadelnd; wer aus ihrer quäkenden, schleppenden Sprechweise überhaupt schlau wurde, hätte Flicka – beziehungsweise ihrem Vater – diese aufgeladene fremdenfeindliche Rhetorik durchaus übelnehmen können. »Die Chinesen, die Koreaner – sie arbeiten hart und hören nicht auf den Rat ihrer armseligen Pädagogen, denzufolge sie ihre Hausaufgaben erst dann machen sollen, wenn sie Lust dazu haben. Das sind die echten Amerikaner, wie es die Amerikaner selbst einmal waren, und sie kolonisieren die Plätze an sämtlichen Eliteuniversitäten, und zwar nicht dank irgendwelcher gönnerhaften Quoten, sondern durch Verdienst  –«
    Carol hörte wie üblich überhaupt nicht zu. Beim Surfen im Büro hatte er jede Menge ungeläufige Informationen aus dem Netz gezogen, doch seine Frau tat sie in der Überzeugung ab, alles schon mal gehört zu haben. Manch eine Frau wäre dankbar gewesen für einen Mann, der jeden Tag neue, faszinierende (wenn auch höchst ärgerliche) Fakten mit nach Hause brachte, der eine ungewöhnliche, dezidierte Meinung hatte und sich ein (wenn auch deprimierendes) Bild von der Welt machte. Aber bei Carol war nichts zu holen. Sie wäre offensichtlich glücklicher gewesen mit einem braven Packesel, der gutgläubig seine Mayonnaisegläser ausspülte, obwohl der Großteil seines

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