Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
kein Protokoll. Schon möglich, dass die meisten von ihrer Mutter gelernt hatten, beim Essen die Ellbogen nicht auf dem Tisch aufzustützen oder mit offenem Mund zu kauen. Aber es hatte sich nie ein Elternteil mit ihnen hingesetzt und ihnen erklärt, dass man dies zu tun und jenes zu sagen habe, wenn jemand, der einem zumindest angeblich am Herzen lag, todkrank war. Es war ein bitterer Trost, dass vielen dieser schäbigen Exemplare der Spezies Mensch im Krankheitsfall irgendwann einmal ein ähnliches Hoppla-jetzt-muss-ich-aber-ganz-dringend-Weg widerfahren würde.
Die vollmundigen Hilfsangebote, mit denen Freunde und Familie der schlechten Kunde am Anfang begegnet waren, stießen Shep sauer auf. Die Eigers hatten ihn gedrängt, sie unbedingt wissen zu lassen, was ihn entlasten würde, doch von ihnen aus war nie auch nur die kleinste Geste gekommen; es musste ihnen doch klar gewesen sein, dass er sie niemals darum bitten würde, Glynis zur Chemotherapie zu begleiten und stundenlang neben ihrem Polstersessel zu sitzen. Eileen Vinzano hatte lang und breit erklärt, dass sie Shep beim Hausputz helfen könnte. Keine Arbeit sei zu nieder, schwor sie, nicht mal Toilettenputzen. Aber das war, bevor die Vinzanos »außer Landes« verschwunden waren. Inzwischen hatte er ein spanisches Mädchen anheuern müssen, das ein Mal die Woche vorbeikam und seinen Putzrückstand aufholte. Eine ehemalige Nachbarin aus Brooklyn, Barbara Richmond, hatte vorgeschlagen, regelmäßig vorgekochte Mahlzeiten vorbeizubringen, die man nur noch hätte in die Mikrowelle schieben müssen, einen Vollzeit-Cateringservice sozusagen, der am Ende auf eine einzige Torte hinausgelaufen war. Glynis’ Cousine Lavinia hatte erklärt, dass sie gern für ein paar Wochen einziehen würde! Damit jemand da wäre, um Besorgungen zu machen und Glynis Gesellschaft zu leisten. Natürlich hatte sie sich nie in Amelias Zimmer einquartiert und war seit April verschollen. Erinnerten sich diese Leute überhaupt noch an ihre extravaganten Angebote im Zuge ihres überstürzten ersten Mitgefühls? Und wenn ja, glaubten sie etwa, Shep habe sie vergessen? Er war von Natur aus nicht nachtragend, aber vergessen hatte er nichts.
WAS ENTTÄUSCHUNGEN ANGING, schoss Beryl natürlich den Vogel ab.
Die zusätzlichen 8300 Dollar pro Monat für das Pflegeheim seines Vaters beschleunigte die Plünderung von Sheps Kapital. Selbst wenn er hartherzig genug gewesen wäre, eine solche Aussicht in Betracht zu ziehen, war das Merrill Lynch Konto zu leer, um den alleinigen Rückzug nach Pemba oder sonst wohin zu finanzieren. Alles drehte sich jetzt um Zusatzzahlungen, Zusatzversicherungen und Rezepte für Glynis’ Behandlung, Punkt. Also wagte er bei einem Telefonat mit Beryl Anfang November einzuwerfen, dass sie eventuell darüber nachdenken müssten, ihren Vater aus der Morgentau-Residenz zu holen und in ein öffentliches Pflegeheim zu geben. Genauso gut hätte er vorschlagen können, den Mann nach Auschwitz zu schicken.
»Diese öffentlichen Heime sind die reinsten Kloaken!«, kreischte Beryl. »Die lassen einen tagelang in der eigenen Scheiße liegen. Öffentliche Pflegeheime haben immer zu wenig Personal, und die Schwestern sind alle Sadisten. Das Essen ist schrecklich, wenn man denn Glück hat und überhaupt welches bekommt; manche dieser alten Leutchen werden so vernachlässigt, dass sie verhungern. So eine Ausstattung wie in der Morgentau-Residenz kannst du vergessen – keine Fitnessräume, keine Krankengymnastik. Es gibt auch keine Veranstaltungen – keine Kurse, keine Singgruppen. Vielleicht ein paar Zeitschriften, das war’s dann aber auch.«
»Na ja, neben einem ständigen Vorrat von Krimis braucht Papa eigentlich nichts weiter als einen Stapel Zeitungen und eine Schere.«
»Aber diese öffentlichen Läden sind wie Müllhalden für die Alten! Alte Frauen hängen mit offenem Mund in ihren Rollstühlen in den Fluren, sabbern sich das Nachthemd voll und brabbeln vor sich hin, dass sie heute Abend mit Danny auf den Schulball gehen, weil sie denken, es ist 1943. Das willst du deinem eigenen Vater antun? Das wird er dir niemals verzeihen, und ich auch nicht.«
Shep vermutete, dass der Unterschied zwischen privater und öffentlicher Pflege überbewertet wurde. Auch in der Morgentau-Residenz hatte er jede Menge Demenzkranke gesehen und jede Menge Gesabber. Gabriel Knacker hatte zwar mit seiner Gemeinde Kirchenlieder gesungen, doch nicht mal in der appetitlichsten Einrichtung würde
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