Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
dich wunderst, ich hab mir keine zehn Millionen bezahlt, als ich der Chef vom Allrounder war.« Das war schon die äußerste Anspielung auf den Kostenpunkt der Morgenröte-Residenz, über den sich sein Vater nie erkundigt hatte. Der Pastor schien praktischerweise der Illusion zu erliegen, dass nach wie vor der Staat die Rechnung übernahm.
»In meinen Augen«, nörgelte sein Vater, »kann kein einzelner Mensch so verflixt wichtig sein, dass er zehn Millionen Dollar im Jahr wert ist. Kein Mensch, nicht mal der Präsident. Vor allem nicht dieser Präsident.«
»Aber wenn du der Ansicht bist, es müsse eine Obergrenze geben für das, was man einer einzigen Person als Gehalt zahlen darf«, spekulierte Shep, »gibt es dann auch eine Obergrenze für das, was man zahlen sollte, um einen Menschen am Leben zu erhalten?«
Sein Vater grunzte. Die Furchen in seiner faltenreichen Stirn waren tiefer und zahlreicher als im Juli.
Shep lachte. »Tut mir leid. Ich meinte das ganz allgemein. Es ist nicht so, dass Beryl und ich gerade versuchen, über die Kostengünstigkeit deines Daseins zu entscheiden.«
»Ich habe es nicht persönlich genommen. Es ist nur eine gute Frage, das ist alles. Was ist ein Leben wert, in Dollar? Wenn die Mittel nicht endlos sind, und das sind sie ja nie. Wenn das Geld, das für eine Person gezahlt wird, nicht einer anderen zukommt.«
»So überschaubar ist die Sache nicht«, sagte Shep. »Wenn die Morgenröte-Residenz zum Beispiel fünf Dollar einspart, indem sie dir Ibuprofen statt Advil gibt, landet das Geld ja nicht in einem Krankenhaus in Nairobi. Aber … die Frage beschäftigt mich trotzdem.«
»Glynis.«
»Ja.«
»Du hast keine Wahl. Du musst alles tun, was in deiner Macht steht, um deiner Frau zu helfen.«
»Das ist die … Erwartung.«
»Aber rein theoretisch«, sagte sein Vater, setzte sich auf und legte einen Schwung an den Tag, von dem Shep nur hoffen konnte, dass er nicht gespielt war, »wie käme man auf eine Zahl? Darf man 10 000 Dollar für ein einzelnes Leben ausgeben, aber keine 10 001 Dollar?« (Die geringe Summe, die der Pastor nannte, löste bei seinem Sohn ein müdes Lächeln aus.) »Und die Reichen werden immer in der Lage sein, sich über finanzielle Schranken hinwegzusetzen. Deckelt man die Kosten für das Gesundheitswesen, deckelt man es eigentlich nur für die Armen.«
Sein Vater war noch immer hellwach im Kopf, und Shep dachte, diese Gespräche werde ich vermissen, wenn er mal nicht mehr da ist.
»Wichtiger noch«, fügte Gabriel hinzu, »wie geht es Glynis?«
»Die Chemo macht ihr schwer zu schaffen. Sie ist dauernd wütend, was an diesem Punkt ein gutes Zeichen ist. Dass sie aufhören könnte, wütend zu sein, ist das, was mir Angst macht.«
»Es gibt nichts zu fürchten. Sie wird ihren Frieden schließen müssen: mit sich, mit dir und mit all ihren Freunden und ihrer Familie. Ich weiß, wie schwierig es ist, den Spieß umzudrehen, aber eine schwere Krankheit ist auch eine Chance. Eine Chance, die man nicht hat, wenn man von einem Bus überfahren wird. Sie hat die Chance zu reflektieren. Die Chance, sich Gott zuzuwenden, auch wenn ich in ihrem Fall nicht unbedingt damit rechnen würde. Sicherlich die Chance, alles zu sagen, was sie nicht ungesagt lassen möchte, bevor sie weg ist. Auf seltsame Weise hat sie Glück. Ich hoffe für euch beide, dass ihr euch in dieser Zeit sehr nahe seid.«
»Ich bezweifle, dass Glynis ihren Krebs als ›Chance‹ sieht. Wobei ich beim besten Willen nicht weiß, was sie denkt. Sie redet nicht darüber, Papa. Soweit ich weiß, glaubt sie immer noch, dass sie sich der Chemo unterzieht, um wieder gesund zu werden. Von den anderen Dingen – noch mal alles sagen, was gesagt werden soll – ist nichts zu merken. Ist das normal?«
»In diesem Zusammenhang gibt es nichts Normales. Und was würde es für eine Rolle spielen, selbst wenn sie anormal wäre? Dann wäre es eben so. Die Menschen klammern sich so blindwütig an ihr Leben, man kann es sich kaum vorstellen. Oder vielleicht kannst du es dir ja inzwischen vorstellen.«
»Sie ist immer so ehrlich gewesen. Anstrengend ehrlich. Erschreckend ehrlich. Und jetzt, wo ihre Ehrlichkeit am meisten gefragt wäre …«
»Denk dran: du weißt nicht, wie es ist. Ich habe mir vielleicht das Bein gebrochen und bin mit dem Schrecken davongekommen, aber auch ich weiß noch immer nicht, wie es ist. Keiner von uns wird es wissen, bevor es uns trifft. Man hat keine Ahnung, wie man reagieren wird.
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