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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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er sich jemals an einer »Singgruppe« beteiligen. Dennoch war Beryls deprimierendes Bild weit verbreitet. Es hätte Shep nichts ausgemacht, wenn sie dieses Klischee aus Angst heraufbeschworen hätte, dass ihr Vater leiden könnte. Ebenso wenig hätte ihm Beryls standhaftes Beharren auf privater Pflege etwas ausgemacht, wenn sie sie mitfinanziert hätte.
    Es machte ihm aber sehr wohl etwas aus, dass ihre selbstgerechte Verteidigung des väterlichen Komforts ganz andere Gründe hatte. Der einzige Sinn und Zweck des von ihm vorgeschlagenen Umzugs war es, seine finanzielle Belastung auf die Öffentlichkeit zu übertragen. Er war selbst schuld, dass sie wusste, was dieses moderne finanzielle Wunder bewirken würde, weil er sie damals im Juli darüber informiert hatte. Damit ihr Vater Medicaid beziehen könnte, würden sie zunächst das Haus verkaufen müssen. Oder ihr Haus, wie sie sicherlich sagte, wenn er außer Hörweite war. (Jacksons Idee war vielleicht technisch machbar: sich einfach zu weigern, die Morgenröte-Residenz zu bezahlen und die bürokratische Mühle mahlen zu lassen, bis der Besitz vom Staat gepfändet wurde. Zu seiner stillen Verblüffung waren er und Beryl gesetzlich nicht verpflichtet, ihren Vater zu pflegen oder seine Rechnungen zu bezahlen. Doch das war nicht die Art und Weise, wie Shepherd Knacker seine Angelegenheiten regelte. Seine Pflichten zu vernachlässigen und darauf zu hoffen, dass irgendjemand hinter ihm herräumen würde, erschien ihm schlampig und unverantwortlich. Er war nun mal, wer er war, dachte Shep ironisch.) Der Erlös von Haus und Grundstück würde dann in das Pflegeheim fließen, bis ihr Vater offiziell mittellos war. Adieu, freie Unterkunft, adieu, Erbe – und das war die Quelle der Empörung, die ihm durchs Telefon entgegenschlug.
    Dennoch hatte Shep nicht die Kraft, sich gegen Beryl aufzulehnen. Er hatte ja selbst seine Bedenken gegenüber den öffentlichen Pflegeanstalten und einen ausgeprägten Sinn für seine Pflicht als Sohn. Die Morgenröte-Residenz war wahrscheinlich die schönere Alternative. Die Begeisterung seines Vaters hielt sich zwar in Grenzen, aber zumindest hatte er sich eingewöhnt. Wenn Shep weiterhin 99 600 Dollar pro Jahr ausspucken musste, käme er zudem rasch an den Punkt, an dem er nicht deswegen die Morgenröte-Residenz nicht mehr bezahlen würde, weil er ein schlechter Sohn war, sondern weil er das Geld nicht mehr hatte. Und es wäre offensichtlich hirnrissig und verschwenderisch gewesen, wenn er alles bis auf den letzten Cent ausgegeben hätte, nur um wieder an demselben Punkt zu landen, an dem er seinen Vater würde aus der Morgenröte-Residenz nehmen, die Rentenversicherung auflösen und das Haus verkaufen müssen. Jackson hatte schon recht, dass man in einem Land, das einem nahezu sein halbes Einkommen abknöpfte und jedes Mal ein extra Schmiergeld verlangte, wenn man nur irgendetwas tun wollte, einen Schraubenzieher kaufen oder angeln gehen zum Beispiel, nicht wirklich von Freiheit sprechen konnte. In diesem speziellen Fall und in Bezug auf seine Schwester hatte es allerdings etwas wahrhaft Befreiendes, bankrott zu sein.
    Inzwischen versuchte Shep, etwa zwei Mal die Woche mit seinem Vater zu telefonieren. Der gebrochene Oberschenkel schien langsam zu verheilen. Dann klingelte der Apparat plötzlich die ganze erste Novemberhälfte auf seinem Nachttisch vor sich hin, ohne dass sein Vater abnahm. Statt direkt mit dem Heimpersonal zu sprechen, beging Shep den Fehler, sich bei Beryl auf den neusten medizinischen Stand bringen zu lassen. Sie sagte nur, dass er offenbar Gewicht verloren habe. Zumindest war es das, was die Pflegerinnen gesagt haben mussten, denn in selbigem Telefonat hatte Beryl verkündet, dass sie »streike«.
    »Du kannst doch von mir nicht verlangen, dass ich ihn andauernd besuche. Das ist nicht fair. Nur weil ich in der Nähe bin, muss ich doch nicht die ganze Last auf mich nehmen. Wirklich, Shep. Ich komme mir allmählich ausgenutzt vor. Ich kann das nicht. Diese Besuche sind so deprimierend. Ich muss meinen Film schneiden, und ich muss meinen, na, du weißt schon, mein Qi beschützen.«
    »Was verstehst du unter ›andauernd besuchen‹?«
    »Das ist einfach nicht mein Ding, Shepardo. Und wenn ich dann doch hingehe, kriege ich nur die ganze Zeit zu hören, warum ich mich so lange nicht hätte blicken lassen, obwohl es mir so vorkommt, als hätte ich ihn gerade erst besucht, ungefähr noch am selben Morgen. Wenn du glaubst, dass

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