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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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ihm die ständige Zuwendung seiner Familie so wichtig sei, wirst du dich hin und wieder schon selber hierher bewegen müssen.«
    Shep seufzte. »Hast du irgendeine Ahnung, was ich hier alles am Hals habe?«
    »Wir haben beide Sachen am Hals. Und er ist auch dein Vater.«
    Widerwillig versprach er, sich Mühe zu geben und demnächst mal wieder nach New Hampshire zu kommen. Gegen Ende des Telefonats warf Beryl noch ein: »Ach ja, und wie läuft das jetzt mit der Heizung? Ich hab da einen Brief bekommen, ich weiß nicht, so eine Art Zwangsräumungsklage von der Gasgesellschaft.«
    »Ich hab die Rechnung auf deinen Namen übertragen lassen. Hatte ich ganz bestimmt schon erwähnt.«
    »Auf meinen Namen, okay, aber du erwartest doch nicht, dass ich die Rechnung auch noch zahle?«
    Er atmete tief durch. »Doch, das tu ich.«
    »Weißt du eigentlich, was es kostet, dieses Haus im Winter zu beheizen?«
    »Natürlich weiß ich das. Schließlich komme ich seit Jahren für die Heizkosten auf.«
    »Pass auf, ich hüte hier das Haus. Von jemandem, der das Haus hütet, kann man nicht auch noch verlangen, dass er die Betriebskosten übernimmt. Manche werden fürs Haushüten sogar bezahlt .«
    »Du willst, dass ich dich auf meine Gehaltsliste setze?«, fragte Shep ungläubig. Geschickt hatte Beryl ihre Vereinnahmung des elterlichen Hauses in einen großen Gefallen umgewandelt. Es war genau die Art von genialem Schachzug, die ihn bei seiner Schwester immer in Erstaunen versetzt hatte.
    »Ich hab kein Geld für die Gasrechnung, Punkt. Du wirst denen einen Scheck schicken müssen, es sei denn, du möchtest, dass ich hier mit Eiszapfen an der Nase sitze und die Möbel verbrenne, um nicht zu krepieren.«
    Schon vor Jahren hatte Beryl die wahrhaftige Freiheit des persönlichen Bankrotts entdeckt. Er war neidisch.
    AM THANKSGIVING-WOCHENENDE machte sich Shep auf den Weg nach Berlin. Der Rückreiseverkehr versprach fürchterlich zu werden, doch ein abendlicher Besuch und ein Sonntagmorgen in dieser Zeit traditioneller Familienzusammenkünfte würden seinem Vater vielleicht wenigstens vorübergehend das Gefühl der Verlassenheit nehmen.
    Ein Country Club war die Morgenröte-Residenz nicht gerade, aber es wirkte alles sauber: Vielleicht war der Hauch von Fäkalien, der den beißenden Desinfektionsmittelgeruch durchdrang, in Einrichtungen zur Pflege der Alten und Kranken unvermeidlich. Ähnlich wie bei dem schwarz angelaufenen viktorianischen Krankenhaus seiner Kindheit hätten dem Heim ein paar Schmutzstreifen nicht geschadet, um dem schlichten quadratischen Bau ein wenig Charakter zu verleihen. So hatte man die Morgenröte-Residenz einer architektonischen Gehirnamputation unterzogen. Shep war ziemlich beeindruckt. Gewiss stellte ein so vollendeter Mangel an Identität in der Welt der Baukunst und Inneneinrichtung eine ebensolche Errungenschaft dar, als ob es jemandem in der gesellschaftlichen Sphäre gelungen wäre, überhaupt keine Persönlichkeit zu generieren. Die Eingangshalle und Flure waren hell und beige. Die Privatzimmer waren mit hellem poliertem Ahornholz ausgestattet. Der Effekt war der einer Traumlandschaft. Die Morgenröte-Residenz war so ein Nicht-Ort, an dem das Hirn vergessenswerte Abenteuer zweiten Ranges registrierte: sinn- und logikfreie Fabulierungen, Zerrbilder vorbeiziehender Bekannter, die einem gleichgültig sind, die frustrierende Suche nach einer Toilette.
    Als Shep vom Flur aus seinen Vater entdeckte, war der alte Mann zumindest nicht katatonisch oder brabbelte etwas von einem bevorstehenden Schulball, vielmehr saß er aufrecht in seinem Bett, hatte die Lesebrille auf der Nase und unterstrich mit konzentrierter Miene einen Absatz in der New York Times . Großartig: also alles wie gehabt. Doch als Shep eintrat und seinem Vater die Wange küsste, erschrak er. Mit einer so drastischen Gewichtsabnahme hatte er nicht gerechnet. Shep hatte genug davon, im fettesten Land der Welt zu leben und gleichzeitig mitansehen zu müssen, wie sich die Menschen, die ihm am meisten bedeuteten, in Luft auflösten.
    »Worum geht’s in dem Artikel?«, fragte Shep und zog einen Stuhl ans Bett. Wie erwartet, war der Nachttisch mit Zeitungsausschnitten übersät.
    »Darum, wie viel Geld diese verflixten Manager verdienen. Millionen, zehn Millionen im Jahr! Das ist doch pervers! Während der Rest der Welt verhungert.« Anders als sein Sohn hatte Gabe Knacker immer frohgemut an seinem New-Hampshire-Dialekt festgehalten.
    »Na ja, falls du

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