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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Verzögerungstaktik. Aber wer den Fall gerade wirklich ausbremst, ist Glynis selbst. Sie muss unter Eid aussagen, und dann muss sie sich von den Anwälten der Firma ins Kreuzverhör nehmen lassen. Der Termin musste schon ein paarmal verschoben werden, weil er zeitlich zu nah an der Chemo lag und Glynis sich zu krank fühlte. Aber einige Male fühlte sie sich gesund genug – was man so gesund nennt –, wollte die Aussage aber trotzdem unbedingt verschieben.«
    »Das versteh ich. Es gibt bestimmt Unterhaltsameres. Der ganze Druck, der auf ihr lastet, sich an alles genau zu erinnern, bloß nichts durcheinanderzubringen, wo das alles doch dreißig Jahre zurückliegt. Schon komisch, wie genau sie sich offenbar an diese Produkte erinnern kann, mit denen wir gearbeitet haben. Immerhin saßen wir in denselben Kursen. Ich jedenfalls hab das Werkzeug und die Materialien nur noch verschwommen vor Augen. An kleine lila Blümchen mit grünen Stängeln, die auf den feuerfesten Handschuhen gewesen sein sollen, kann ich mich ums Verrecken nicht erinnern, so viel ist sicher.«
    »Ich will dir nicht den Tag verderben, aber theoretisch könntest auch du auf der Kunstschule mit Asbest in Berührung gekommen sein.«
    »Ja, das ist mir auch schon in den Sinn gekommen. Nur dass ich diese seltsame Erinnerung habe …«
    »Woran?«
    »Ach, egal. Es kann eigentlich nicht stimmen. Glynis hat anscheinend eine genauere Wahrnehmung als ich.« Petra nahm einen großen Schluck Bier und schob die Flasche vor dem Hochzeitsbrunnen auf den Tisch. Ein paar gedehnte, peinliche Takte lang erfüllte nur sein Plätschern die stickige, überheizte Luft.
    »Hör zu«, begann sie. »Ich … wie gesagt, ich wollte mich entschuldigen. Dass ich nicht öfter hier vorbeigekommen bin. Dass ich nicht enger in Kontakt geblieben bin.«
    Er wappnete sich für die üblichen Rechtfertigungen: Sie habe furchtbar viel zu tun gehabt in der Zeit, sie habe diese anspruchsvollen Aufträge, und Termindruck …
    »Ich habe keine Entschuldigung«, sagte sie stattdessen. »Dieses Jahr war nicht viel los. Ich teile mir meine Zeit ein. Ich könnte jederzeit vorbeischauen, auch ständig. Und es wäre überhaupt kein Ding, immer wieder anzurufen. Ich tu’s einfach nur nicht.«
    »Du hast mehr Kontakt gehalten als viele ihrer Freundinnen.«
    »Das tut mir leid. Das wundert mich. Sie hat doch immer eine so große Loyalität ausgelöst. Sie ist schon ein komischer Vogel, deine Frau, aber diese Schärfe, diese Boshaftigkeit und dieser erbitterte Trotz – den sie immer noch hat, auch wenn sie einen damit jetzt wahnsinning nervt –, na ja, viele Leute vergöttern sie deswegen. Die Leute ernähren sich geradezu davon.«
    »Eine Zeit lang«, sagte Shep, »als die Besuche immer weniger wurden, hat sie noch relativ viele E-Mails bekommen. Wir drücken dir die Daumen, wir denken an dich , solche Sachen. Ich persönlich halte das Internet für ein Medium für Feiglinge. Aber diese Zweizeiler waren immer noch besser als gar nichts. Jetzt sehe ich ihre E-Mails durch, und es ist nur noch Spam. Bis auf den täglichen Anruf ihrer Mutter klingelt das Telefon manchmal tagelang nicht.«
    Petra fasste sich an die Stirn. »Ich habe einen gelben Zettel oben auf meinem Computer kleben. Darauf steht: ›GLYNIS ANRUFEN‹, in Großbuchstaben. Seit Februar klebt er da. Ein paar Monate später habe ich noch ein paar Ausrufezeichen dazu gemalt. Hat auch nichts genützt. Inzwischen habe ich mich an den Zettel gewöhnt. Erst war er gelb, aber jetzt ist er verblichen und ein bisschen verstaubt. Ein Teil der Landschaft. Ich weiß ja, was draufsteht, ich weiß, warum er da ist, und die ganze Zeit denke ich daran, dass ich Glynis anrufen muss, aber ich tu’s nicht. Stattdessen fühle ich mich schrecklich, dass ich nicht anrufe, als würde ich Glynis irgendeinen Gefallen tun, indem ich mich schrecklich fühle. Klar«, fuhr sie fort, nachdem sie das halbe Bier geleert hatte, »ab und zu komme ich vorbei, und ich rufe hin und wieder an, aber ich muss mir dazu schon die Pistole auf die Brust setzen, und ich versteh’s gar nicht. Sie ist ja manchmal ziemlich barsch zu mir gewesen … du weißt ja, sie hat einfach nicht viel produziert, was ich mir auch nicht erklären kann, weil sie so irrsinnig talentiert ist. Wahrscheinlich hätte ich es ihr einfach mal ins Gesicht sagen müssen, aber sie ist eine hochgradig originelle Designerin und eigentlich besser in der Ausführung als ich – das heißt, sogar besser,

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