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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Vielleicht ganz genauso. Man möge sich eines Urteils enthalten.« Ein wenig parodierte Gabriel den Tonfall seiner eigenen Predigten, und Shep war froh über seine Neigung, sich eines Urteils zu enthalten, jene Eigenschaft, derentwegen sein Vater ihn immer getadelt hatte.
    »Eine Sache noch«, sagte Shep. »Als du Pastor warst, hattest du doch ständig mit Leuten zu tun, die krank waren. Sind die Leute damals … gut damit umgegangen? Aufmerksam? Haben sie zueinander gehalten? Und ich meine, bis zum Ende? Bis zum bitteren, hässlichen Ende?«
    »Es gab solche und solche. Es war immer meine Aufgabe, zu ihnen zu halten. Das ist eine Sache, für die das Pfarramt gut ist – auch wenn du nie davon überzeugt warst.« Der Tadel war fast willkommen. Sein Vater klang so, wie er immer geklungen hatte, und in diesen vier Wänden war das eine Erleichterung. »Wieso fragst du?«
    »Die Leute … ihre Freunde, selbst die engste Familie. Sie haben Glynis … viele haben sie im Stich gelassen. Ich schäme mich für die Leute. Und dieses allgemeine Sich-in-Luft-Auflösen, na ja, es setzt ihr zu, auch wenn sie so tut, als wäre sie froh, ihre Ruhe zu haben. Es zieht einen ganz schön runter. Ich frag mich, ob die Menschen immer schon so waren, so schwach. Illoyal. Ohne Rückgrat.«
    »Als Christen haben wir die Pflicht, für die Kranken zu sorgen. Die meisten Menschen in meiner Gemeinde haben diese Pflicht immer ernst genommen. Deine weltlichen Freunde haben nur ihr eigenes Gewissen als Antriebsfeder, und das reicht eben nicht immer. Es gibt keinen Ersatz für einen tiefen Glauben, mein Sohn. Der Glaube kehrt das Beste in einem hervor. Einen kranken Menschen zu pflegen ist harte Arbeit, und es ist nicht immer schön; das brauche ich dir nicht zu erzählen. Wenn man sich auf die schwache Idee verlässt, dass es von freundlicher Aufmerksamkeit zeugen würde, einen Auflauf vorbeizubringen« – hier zuckte das Gesicht des alten Mannes seltsam besorgt, und er schloss für einen Moment die Augen –, »wird dieser Thunfischauflauf es vielleicht nicht … bis in den Ofen schaffen.«
    »Papa, ist alles in Ordnung?«
    Sein Vater griff nach einem Summer und sagte: »Tut mir leid, mein Sohn, ich weiß, du bist gerade erst gekommen. Aber du wirst mich einen Moment mit der Pflegerin allein lassen müssen.«
    Einige unbehagliche Minuten verstrichen, während sich sein Vater mit großer Konzentration zusammenkauerte und nicht sprechen konnte. Mit einer Bettpfanne in der Hand betrat eine Philippinerin geschäftig den Raum, deren weiße Tracht für ihre Aufgabe wenig geeignet war. Shep wartete im Flur. Irgendwann kam sie mit einem Knäuel Bettzeug aus dem Zimmer. Ein wässrig-brauner Fleck verriet, dass sie nicht rechtzeitig gekommen war.
    »Fünfzehn Mal pro Tag geht das so«, nörgelte Gabriel, der einen frischen Pyjama trug, als Shep wieder ins Zimmer trat. »Wenn du glaubst, der Körper gewöhnt sich an so was, denk noch mal nach. Es ist erniedrigend.«
    Shep rührte sich beklommen und rückte den Stuhl ein paar Zentimeter vom Bett weg. »Hast du dir irgendeine Grippe eingefangen?«
    »Könnte man so sagen. Ein Bakterium von der Größe eines Schoßhündchens. Clostridium difficile . Oder CDiff, wie man hier liebevoll sagt.«
    »Was ist das?«
    »Eine dieser Infektionskrankheiten, die auf ganze Krankenhäuser übergreifen. Die Hälfte der Patienten in dieser Einrichtung leiden daran. Die Schwestern waschen ihre Hände wie Macbeth, aber soweit ich feststellen kann, macht es nicht den geringsten Unterschied. Ist dir nichts aufgefallen, im Flur? Es stinkt. Ich werde mit Antibiotika vollgepumpt, aber bisher ist es, als würde man mit einer Spielzeugpistole auf Elefanten schießen. Und ich muss unbedingt wieder gesund werden, sonst lassen sie mich nie wieder nach Hause .«
    Ein weiteres Problem wäre dann Beryl, aber Shep hatte plötzlich andere Sorgen. Er stand auf, spreizte die Finger, hielt die Arme vom Körper weg und versuchte sich genau zu erinnern, welche Oberflächen er seit Betreten des Hauses berührt hatte.
    In der Herrentoilette im Flur seifte sich Shep minutenlang Hände und Unterarme ein und drehte die Hähne mithilfe eines Papiertuchs vom Spender zu, dessen Kurbel er mit dem Hemdzipfel bedient hatte. Mit demselben Zipfel öffnete er die Tür der Toilette.
    »DU HAST MICH GEBETEN – oder soll ich sagen, mir befohlen –, herzukommen und Papa zu besuchen«, fuhr er Beryl zu Hause nach einer zwanzigminütigen Dusche an. »Warum

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