Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Offenbar halten Vorschriften genau so viel Macht, wie man ihnen einräumt. Und Petra gehörte jedenfalls zu den Drahthochziehern. Nachdem sie sich der No-go-Grenze ihrer Freundin genähert hatte, tauchte sie unter dem Draht hinweg.
»Wie ist es denn?« hörte er sie Glynis fragen. »Wie fühlt es sich an? Was hast du dabei für Gedanken?«
»Wie ist was ?« Glynis zeigte wenig Entgegenkommen.
»Ich weiß nicht … Sich dem Unvermeidlichen zu stellen, denke ich.«
»Dem Unvermeidlichen «, wiederholte Glynis säuerlich. »Stellst du dich nicht auch dem Unvermeidlichen?«
»In abstraktem Sinne, ja.«
»Es ist aber nichts Abstraktes.«
»Natürlich nicht. Und natürlich sitzen wir wohl alle im selben lecken Boot.«
»Dann sag du mir doch, wie es ist .«
»Du machst es einem nicht leicht.«
»Es fällt mir nicht leicht«, sagte Glynis schroff. »Warum sollte ich’s dir leichtmachen?«
»Ich finde einfach, wir sollten diese Zeit – diese knappe Zeit – nicht damit verbringen, uns über silberne Nieten zu unterhalten.«
»So haben wir aber immer unsere Zeit verbracht: mit silbernen Nieten. Es war dieselbe Zeit – unsere Zeit, unsere ›knappe Zeit‹, alles, was wir an Zeit hatten. Wenn das jetzt Verschwendung ist, dann war es das damals genauso. Also, wenn’s nach dir ginge, hätten wir uns an all den Nachmittagen besser über den Tod unterhalten sollen.«
»Das wäre vielleicht auch wieder Verschwendung gewesen, nur anders.«
»Also, bitte sehr. Wenn’s das ist, was du willst. Reden wir über den Tod. Ich bin ganz Ohr.«
»Ich … entschuldige. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Petra klang beschämt.
»Hab ich mir gedacht. Und wieso sollte ich dann wissen, was man dazu sagen soll?«
Als Glynis die Lautstärke des Fernsehers aufdrehte, konnte Shep das Gespräch nicht länger verfolgen. Vermutlich wurden viele der verbleibenden Besucher mit dieser alles durchdringenden Streitlust und zeitweise offenen Feindseligkeit konfrontiert, und offensichtlich hatten sich einige dadurch unwiderbringlich in die Flucht schlagen lassen.
Als Petra zwanzig Minuten später wieder auftauchte, bot er ihr unten noch eine Tasse Kaffee an. Den Kaffee lehnte sie ab, aber wie sie sagte, könne sie definitiv eine »Nachbesprechung« gebrauchen, und ließ sich im Wohnzimmer auf die Couch fallen. Er war froh, dass sie nicht sofort ein Taxi wollte. Jackson war so düster, mal schweigsam und dann wieder aufbrausend gewesen, dass Shep seit jenem Abendessen einen großen Bogen um ihn gemacht hatte. Er hatte nicht viele Leute, mit denen er reden konnte.
»Gott, ist das warm hier drin«, sagte Petra und zupfte an ihrer Bluse. »Da ist ein Kaffee jetzt das Letzte, was ich brauche. Was sind das, achtundzwanzig Grad? Dreißig?«
»Glynis friert die ganze Zeit. Wie wär’s stattdessen mit einem Bier?«
»Das wär genau das Richtige, danke. Aber mein Gott, dieses ganze Haus zu beheizen muss dich doch ein Vermögen kosten!«
»Stimmt.« Er staunte jedes Mal, wenn jemand diese eigentlich selbstverständliche Seite des Albtraums zur Kenntnis nahm.
Er holte für jeden eine Flasche Brooklyn Brown Ale. Petra sah nicht schlecht aus für eine Frau über fünfzig, obwohl sie ein Button-down-Hemd mit Säurelöchern und weite Jeans mit Lötpasteflecken trug: ihre Atelierklamotten. Wie so viele Kunstschmiede, die Schmuck herstellen, trug sie selbst keinen. Ihre Haare waren ungekämmt, die Nägel rissig und schwarz. Ihre Handflächen waren überzogen mit roten Striemen vom Pariser Rot, dem Poliermittel – das war ihre Art von Make-up. Petra gehörte zu den Leuten, die sich offenbar keine Gedanken um ihre äußere Erscheinung machten, oder mehr noch: die sich nicht bewusst waren, dass sie von anderen wahrgenommen wurden. Eine seltene und erfrischende Eigenschaft.
»Und – kann sie mich hier unten hören?«, fragte Petra leise.
»Nein. Durch die Chemo ist ihr Gehör nicht mehr so toll.«
»Sie sieht nicht gut aus, Shep.«
»Langsam wird’s eng«, gab er zu.
»Ich wollte mich eigentlich entschuldigen. Ich sollte mich eher bei Glynis entschuldigen, aber ich glaube, sie würde mich gar nicht lassen. Eigentlich kann ich mit ihr über gar nichts mehr reden, und wenn ich’s versuche, wird sie wütend.«
»Das liegt nicht an dir. Und wenn du das für wütend hältst, versuch’s mal mit dem Thema Forge Craft.«
»Wie läuft’s denn überhaupt mit eurer Asbestklage?«
»Wie zu erwarten, setzt Forge Craft erst mal auf eine
Weitere Kostenlose Bücher