Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
denn so schlampig bin ich auch wieder nicht –, sie ist eben Perfektionistin. Ich weiß, sie missgönnt mir meine Verkäufe, und ich weiß auch, dass sie meine Sachen für Mist hält. Ich halte meine Sachen nicht für Mist, ist schon okay. Meine Sachen sind Mainstream, deswegen verkaufen sie sich ja auch. Deshalb unser angespanntes Verhältnis. Aber was soll’s, ich fand unser angespanntes Verhältnis gut. Wir hatten eine gemeinsame Energie. Ich fand’s immer toll, mich mit ihr zu streiten, über die ganze Handwerk-versus-Kunst-Frage, oder sogar, was weiß ich, ob gegrillter Radicchio eklig ist, und er ist wirklich eklig; er nimmt eine ganz schlimme bräunlich-lila Farbe an. Ich habe mich sonst nie vor ihrer Gesellschaft gedrückt. Warum bin ich keine bessere Freundin? Jetzt, wo sie mich mehr braucht als je zuvor? Ich sollte hier jede Woche auf der Matte stehen, oder fast jeden Tag! Sie stirbt doch, oder nicht?«
Ruckartig setzte sich Shep zurück. Er war es nicht gewohnt, diese Frage so direkt gestellt zu bekommen. »Vermutlich. Sag Glynis nichts davon.«
»Sie muss es wissen. Sie muss es besser wissen als alle anderen.«
»Das mit dem ›Wissen‹ ist eine seltsame Sache. Sie verweigert sich dem Wissen. Muss man etwas erst wissen, um sich dem Wissen zu verweigern? Oder kann man etwas auch wieder entwissen? Sie redet nie darüber.«
»Nicht mal mit dir? Das kann ich gar nicht glauben.«
»Vielleicht gibt es nichts zu sagen.«
»Ach, Quatsch. Fragt sie sich nicht, wie du ohne sie zurechtkommen wirst? Ob du in Westchester bleiben wirst, wenn Zach erst mal aus dem Haus ist? Ich weiß, du findest es schrecklich hier. Oder wie du darüber denkst, noch mal zu heiraten? Wie sie darüber denkt? Will sie eine Beerdigung, und wie soll die Beerdigung sein? Will sie begraben oder eingeäschert werden? Gibt es irgendwelche Formalitäten, die sie erledigen muss, während sie noch die Chance hat, ihren Kram in Ordnung zu bringen? Möchte sie jemandem ihre Arbeiten überlassen, oder will sie, dass ich versuche, ihr Werk – was eben da ist – in einer Galerie oder in einem Museum unterzubringen?«
»Das sieht Glynis nicht als ihr Problem an. Und was die Formalitäten anbelangt, glaube ich, dass es ihr lieber wäre, alles in einem großen Chaos zurückzulassen. Als Rache. Sie ist böse, das weißt du doch. Ist ja auch eigentlich ganz charmant. Vielleicht versteht sie den Tod ja doch besser, als wir alle denken. Wenn sie nicht hier ist, bin ich nicht hier. Ist Westchester nicht hier. Wenn Glynis stirbt, stirbt alles andere mit. Was kümmert es sie, ob ich wegziehe oder noch mal heirate, wenn ich ohnehin nicht mehr existiere?«
»Aber sie liebt dich.«
»Auch die Liebe stirbt. Manchmal denke ich, es ist gar nicht so, dass sie die Augen vor der Realität verschließt oder sich selbst belügt oder in einer Phantasiewelt lebt. Manchmal denke ich, sie ist ein spirituelles Genie.«
Petra lachte. »Du bist ein sehr großzügiger Mensch.«
»Mhm. Noch was, was Glynis an mir nie ausstehen konnte.«
»Wie lautet denn nun die Prognose?«
»Ihr Arzt glaubt angeblich nicht an Prognosen. Aber meinen Internetrecherchen zufolge … Tja, ich vermute, sie ist genau in der Zeit.«
»Das heißt?«
»Dass du recht hast. Dass du wahrscheinlich versuchen solltest, öfter vorbeizukommen.«
WÄHREND ER AM Abend darauf für Glynis die nächste Vollfettmahlzeit in der wie üblich optimistischen Menge zubereitete, wobei er darauf achtete, sich vorab die Hände zu waschen, dachte Shep über Amelia nach. Auf der langen Liste der Nebenfiguren in diesem Drama war ihre eigene Tochter vielleicht die enttäuschendste. Es kam nur selten vor, dass Glynis nachsichtiger war als Shep, doch es fiel ihm schwer, über Amelias Verhalten hinwegzusehen, das für Glynis nachvollziehbar und für Shep erschreckend war.
Zugegeben, im August war Amelia endlich mal wieder nach Hause gekommen, den Rücksitz ihres Kleinwagens voller Lebensmittel. Fast einen Tag lang war sie zwar körperlich im Haus anwesend gewesen, hatte aber die meiste Zeit damit zugebracht, eine aufwendige Mahlzeit zu kochen – Cannelloni (mit selbst gemachtem Nudelteig), einen edlen italienischen Brotsalat, der jede Menge Gemüseschneiden erforderte, und Zabaione-Halbgeforenes in einzelnen kleinen Gläsern. Ein kompliziertes Abendessen ganz ohne Fertigprodukte wirkte wie eine großzügige Geste. Doch kurz zuvor hatte Glynis mit Adriamycin begonnen gehabt, und ihre Medikamente gegen Übelkeit
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