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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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wartete, die Sache aussaß, seiner Entlassung harrte, Entlassungspläne schmiedete, der nachts, wenn er sich unbeobachtet wähnte, wie ein Alcatraz-Insasse heimlich mit dem Löffel seinen Tunnel grub.
    In Glynis Kopf drängten sich die Ideen, drängte sich alles, was die Nach-Nachher-Glynis erschaffen würde. Scharfe Gegenstände, aggressive Gegenstände, kompromisslose Gegenstände. Sie würde sofort mit dem Messer beginnen. Sie könnte sofort mit dem Entwurf beginnen, dann hätte sie im Nach-Nachher schon einen Vorsprung. Denn sie hatte keine Minute zu verlieren. Ihr armer, fehlgeleiteter Mann hatte seine Pennies gehortet, wo doch Zeit die einzige Währung war, die je gezählt hatte.
    Mit einer wahrhaft spektakulären Anstrengung, die Außenstehende lediglich als ein wenig bemerkenswertes Aufstehen vom Stuhl gesehen hätten, ging Glynis zum Telefon und holte Bleistift und Notizblock. Schlurfte zurück zum Küchentisch. Versuchte eine frische Seite aufzuschlagen. Es dauerte eine Ewigkeit, die Seite aufzuschlagen. Es gelang ihr nicht, mit dem Finger die Ecke aufzubiegen, und schießlich nahm sie dazu den Radiergummi. Die Hände … ( Die Hände, nicht ihre Hände; wenn überhaupt, besaßen ihre Hände sie. So war es nämlich; sich auf »ihren« Körper beziehen zu wollen war inzwischen völlig verkehrt, denn eigentlich hatte der Körper seine Glynis; der Körper besaß den Menschen, nicht umgekehrt.) Nun, die Hände waren so taub, dass man ihr das Telefonbuch darauf hätte fallen lassen können, und sie hätte nicht mal mit der Wimper gezuckt. Außerdem lösten sich ihre Fingernägel ab, jeder mit einem leisen Plopp, so kam es ihr vor, sie ploppten ihr von den Fingern – gefurcht, verformt, so dunkel, dass sie fast lila waren. Sie hatte Finger wie ein schwerer Raucher oder wie ein Hobbybastler, der sich gern mit dem Hammer auf den falschen Nagel schlug. (Wenn Shepherd nicht in der Nähe war, knibbelte sie daran herum. Sie bluteten. Das war nicht gut. Die Fingernägel hochzuklappen und drunterzugucken war krank, aber sie konnte sich stundenlang damit beschäftigen.) Mit ihren Zehennägeln war es sogar noch schlimmer, weil sie nämlich keine mehr hatte; wenn sie im Bett lag, starrten die Nagelbetten seelenlos zu ihr hoch, wie blind, zehn eingedrückte Höhlen.
    Der Bleistift war schwer wie eine Schaufel. Als sie die Spitze übers Papier zog, hatte die wacklige Grafitlinie nichts gemein mit der sauberen Linie in ihrem Kopf – ein ondulierender Messergriff, Küchenutensilien wie von Henry Moore. Also ließ sie den Entwurf des Griffs sein, um sich erst der Klinge zuzuwenden, aber auch die wurde wacklig – dünn, zittrig und schlaff, die abgeschrägte Seite konkav.
    Selbst als Dreijährige hatte sie besser zeichnen können. Mit einer letzten Anstrengung für diesen Morgen zog sie an der Seite, ohne sie aus der Gummierung reißen zu können. Also begnügte sie sich damit, den peinlichen Klecks mit einer geschlängelten Linie durchzustreichen, deren Blässe ihren Zorn kaum einzufangen vermochte.
    GLYNIS ERWACHTE, DAS Gesicht eingedrückt auf dem Küchentisch. Das Gekritzel auf dem Notizblock ergab für sie wenig Sinn. Komisch, aber das bisschen geistiges Strandgut, das der morgendliche Wirbelsturm flüchtiger Gedanken übrig gelassen hatte, war ein einzelner Gedanke: »bescheuerte Gartenspringbrunnen«. Sie nahm es zurück. Das war gemein. Sie wusste Shepherds Springbrunnen wirklich zu schätzen. Sie waren ein bisschen verrückt, entstammten aber der verrückten Seite ihres Mannes, die sie mochte.
    Neben dem Notizblock stand ein Teller Nudelsalat, aufgehellt mit roten Paprikastückchen und Petersilie, an der Seite eines halben Thunfischsandwichs mit zu viel Mayonnaise. Nancy, die einen Schlüssel hatte. Welche Gnade, die nette Geste verpasst zu haben. Dass sie nicht auch noch dankbar sein musste für die nette Geste. Vor allem, dass sie das Zeug nicht auch noch essen musste.
    Es musste Nachmittag sein. Freitag. Sie sollte heute Besuch bekommen. Eine Aussicht, die ihr normalerweise verhasst war, aber es war eine seltene Besucherin, die ihr eigentlich nichts ausmachte. Flicka. Sie ähnelten sich. Wie eigenartig, dass sie mit einer Siebzehnjährigen inzwischen mehr gemein hatte als mit deren energischer, großbusiger Mutter.
    Glynis zog sich Hand über Hand am Geländer entlang nach oben; niemand würde je nachvollziehen können, wie viel Kraft es sie kostete, einen frischen samtenen Hausanzug anzuziehen. Auf der Mitte der

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