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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Treppe war sie außer Atem und lehnte sich ans Geländer, um zu verschnaufen. Atmen – jedes Mal, wenn sie heutzutage einatmete, war es irgendwie zu spät. Der Atem kam zu spät; die Luft von diesem Atemzug hätte sie schon beim vorigen gebraucht gehabt. Die Füße taten ihr weh; sie quollen aus ihren rosa Plüschpantoffeln, die Haut war gedehnt und rissig von den Ödemen. Sie hätte nicht auf dem harten Küchenstuhl einschlafen dürfen; der Druck auf ihrem Hinterteil hatte die wunden Stellen um ihren After verschlimmert – denn wenn sie ausnahmsweise mal auf die normale Art Stuhlgang hatte, brannte er ihr Löcher in den Arsch. Toxischer Stuhl. Socken, um hässliche geschwollene Fußgelenke zu verstecken. Wollmütze. Bloß nicht die Besucher mit der Glatze erschrecken.
    Zurück auf dem Treppenabsatz, drehte sie das Thermostat noch mal zwei Grad höher, wobei sie nicht auf die Ziffern sah, sich um Ziffern nicht scherte. Ihr war ständig kalt.
    Halb vier. Carol hatte vier Uhr gesagt. Da sie nichts Besseres zu tun hatte, spähte Glynis aus dem Fenster der Diele und hielt Ausschau nach dem Auto. Bei dem, was sie stattdessen sah, durchfuhr sie ein vertrauter, hilfloser pawlowscher Ekel.
    Ein Nachbar beim Joggen. In seiner edlen Trainingshose mit den kleinen Streifen, in seinen edlen Laufschuhen mit noch mehr kleinen Streifen. Mit feschem Stirnband. Er wirkte so stolz auf sich. Strahlte das gleiche von Eigenlob überlagerte, verhohlene Selbstmitleid aus, das sie schon bei ihrem Mann nicht ausstehen konnte. In seinem zum restlichen Outfit passenden Sweatshirt und seinen Funktionshandschuhen drehte er seine Runden um den Golfplatz. Strotzend vor mannhafter Disziplin. Unerschrocken angesichts des peitschenden Februarwindes und des Schnees in der Luft. Na klar, lauf dir ruhig die Seele aus dem Leib, du scheinheiliger Wichser. Glaubst du, ich wäre früher nicht auch gelaufen? Warte du nur. Du wirst schon sehen. Eines Tages gehst du zu irgendeiner Routine untersuchung, haha, und der Arzt wird dich mit lateinischem Gewäsch bombardieren, und siehe da, dann wirst du nicht mehr um irgendeinen Golfplatz rennen; du wirst Gott danken, wenn du überhaupt noch aus dem Bett kommst. Also lauf du nur, lauf, lauf. Solange, wie’s noch geht. Du brauchst dir nämlich gar nichts vorzumachen. Es ist bei dir nur noch nicht so weit.
    Manchmal ärgerte sich Glynis, dass ein Mesotheliom nicht ansteckend war.
    Zugegeben, Glynis selbst hatte Fitnesskurse genommen und die verschiedensten Sportarten betrieben, um das zu behalten, dessen sie jetzt nicht etwa durch schwindende Disziplin, Nachgiebigkeit, Faulheit oder einen Mangel an Entschlusskraft beraubt worden war. Während dieser Workouts hatte auch sie sich eingebildet, Willenskraft aufzubieten, mitunter bis zum Maximum. Falsch. Und das war die Hauptquelle der Verachtung, die ihr Nachbar in ihr weckte, während er oben den Hügel umrundete und auf der Rückseite wieder hinuntertrabte. Er glaubte, »über seine Grenzen hinauszugehen«, wo sie an diesem Nachmittag fünfzig Mal so viel Willenskraft hatte aufbieten müssen, um nur die Treppe hochzukommen. Er glaubte, den »Elementen zu trotzen«, hatte jedoch keinerlei Wertschätzung dafür, wie freundlich sich ein kleiner Februarsturm ausnahm, wenn einem ein finsterer Wind durch den Körper fegte. Er glaubte, sich zu etwas zu zwingen, wozu er eigentlich keine Lust hatte, dabei war ihm gar nicht klar, dass das Laufen, ähnlich wie der Supermarkt, ein Privileg war. Er glaubte, er arbeite an seinem Durchhaltevermögen, dabei würde er sich noch umgucken, wenn sein eigenes Pestschiff in den Hafen einlief, dann würde er entdecken, dass er nicht einen Funken Durchhaltevermögen aufgebaut hatte, mit dem er in den neuen, unschönen Umständen etwas anfangen könnte. Es war zum Totlachen, aber er bildete sich doch tatsächlich ein, Schmerzen zu überwinden.
    Klar, Glynis schaffte es nicht mal mehr von der Veranda zum Briefkasten. Aber das ganze letzte Jahr mindestens hatte der Krebs echtes Durchhaltevermögen erfordert, echte Disziplin, echte Willenskraft, und dagegen waren ein bisschen Step-Aerobic oder eine Runde um den Golfplatz der reinste Witz.
    Die halbe Stunde, die sie warten musste, verging wie ein Jahrhundert. Wie unfair, die Kostbarkeit der Zeit genau dann festgestellt zu haben, wo einem jedes Zucken des Sekundenzeigers zur Qual wurde. Was sollte man tun, wenn einem die gleiche Menge Zeit sowohl kostbar also auch verhasst war? Es war sadistisch,

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